Nie wieder Krieg!

Ein Zeitzeuge berichtet

80 Jahre nach Kriegsende berichtet ein Zeitzeuge: Der 95-jährige Georg aus der Krug­pfuhlsiedlung, der sich bis heute politisch engagiert – etwa bei der Ini­tiative »Hufeisen gegen Rechts« – erzählt seine Geschichte.
Ich bin im März 1930 in Britz geboren. Nach der Weltwirtschaftskrise herrschte große Arbeitslosigkeit. Mein Vater holte jede Woche die Wohlfahrtsunterstützung von acht Mark ab, mit mir auf dem Fahrrad.
Ich besuchte die 1. Knaben-Mittelschule in Neukölln, in der Kopfstraße. Schon bald prägten Soldatenfilme den Alltag. Heimkehrende Spanienkämpfer wurden propagandistisch gefeiert, Luftschutzübungen gehörten zur Routine.
1937 wurde mein Vater wegen Widerstands gegen das NS-Regime zu 15 Jahren Haft verurteilt und in verschiedenen Zuchthäusern inhaftiert.
Mit zehn musste ich mich beim Jungvolk melden. Wegen der Verhaftung meines Vaters vermied meine Mutter jegliche Auffälligkeit. Über die HJ erfolgte nicht nur die Vermittlung der NS-Ideologie mit ihrem Wertesystem von Gefolgschaftstreue, Kameradschaft, Pflicht­erfüllung und Willensstärke, sondern mit der Betonung der körperlichen Leistungsfähigkeit und ihrer paramilitärischen Ausbildung diente die HJ immer stärker der Rekrutierung von Soldaten.
Nach den Ferien 1943 wurden Lehrer und Schüler nach Krynitza/Tatra evakuiert und somit endete für mich das Kapitel HJ. Ich kam dank Sondergenehmigung zu Verwandten ins Mansfelder Kupferschiefergebiet im Harz, wo es eine Mittelschule gab. Wir Schüler wurden auf Gutsfeldern zur Arbeit eingesetzt. Den Krieg erlebte ich immer, wenn ich in den Ferien bei meiner Mutter zu Besuch war. Bei Luftalarm rannten wir in Bunker.
Zurück im Dorf erwarteten mich neue Anforderungen. Vor Kriegsende kamen immer größere Flüchtlingsströme. Wir Jugendliche bekamen die Aufgabe zugewiesen, diese aufzuhalten und den Transportleiter zu einer Meldestelle zu begleiten. Nachdem entschieden wurde, in welchem Dorf die Flüchtlinge unterkommen, musste ich sie dorthin begleiten.
Dann kam das Ende des Krieges, Amerikaner und Engländer rückten um den Harz vor. Die Bewohner des Dorfes mussten Waffen, Foto- und Radioapparate sowie Fahrräder abgeben. Wir Kinder bekamen Süßigkeiten. Dann erfuhr ich: Mein Vater lebte! Ich wollte sofort zurück nach Berlin.
Die Reise war mühsam. In einer offenen Güterlore konnte ich einen Stehplatz erobern. Durch Ruinenlandschaften führte die lange, mit vielen Stopps zermürbende Fahrt. Gegen Abend erreichten wir Berlin.
Am nächsten Tag erreichte ich schließlich unser Haus, das nur leichte Schäden hatte. Mutter und Vater wussten nichts von meiner Rückkehr. Das Wiedersehen war überwältigend. Mein Vater, gealtert und abgemagert, erkannte in mir kaum noch den kleinen Jungen. Inzwischen wohnten auch die Großeltern bei uns.
Jetzt begann der Kampf ums Wohnrecht: Anmeldungen bei Polizei und Wirtschaftsamtsstellen, Bezug von Lebensmittelkarten. Schulen waren noch geschlossen, überall herrschte Mangel. Flüchtlinge und Ausgebombte wurden in die freien Wohnungen eingewiesen. Beherrschendes Thema aber war, das normale Leben wieder in Gang zu setzen. Alles Traumatische aus den letzten Jahren war kein Gesprächsstoff.
Im Herbst wurde ich in der Schule am Richardplatz registriert. Unterricht gab es noch nicht. Stattdessen halfen wir beim Herrichten des Klassenraumes oder sammelten Holz für den Kanonenofen. Der Nürnberger Kriegsverbrecherprozess musste täglich im Unterricht behandelt werden, unser Lehrer schwieg dazu demonstrativ. Ich engagierte mich in der antifaschistischen Jugendgruppe Britz, schaffte später meinen mittleren Schulabschluss und begann eine Maurerlehre. Eigentlich wollte ich immer Bauer oder Häuserbauer werden.
Die Zerstörung, die unermesslichen Verluste an Menschenleben, das Leid der Familien – all das mahnt: Nie wieder Krieg!
Doch wir haben es versäumt, unseren Nachkommen diese Lehre tief genug einzuprägen. Viele, die Krieg nur aus Nachrichten kennen, verharmlosen seine Folgen. Heute wird Krieg wieder salonfähig gemacht, die Rüstungsindustrie boomt.

aufgezeichnet von Fred Haase