Archiv der Kategorie: Kolumne

Mit Flaschenpfand gerade so über die Runden

Eine Betrachtung über das Altern in Würde

Emmi ist eine kleine gedrungene Frau mit weißen kurzen Haaren, welche ihr strähnig auf der Stirn liegen. Sie trägt einen weiten dunklen Parka, dazu Handstulpen und eine gestrickte Mütze. Mit Herz und Schnauze klappert sie jeden Freitag und Samstag die Schlangen vor den bekannten Konzerthäusern ab, auf der Suche nach Pfandflaschen, um sich ihre Rente aufzustocken.
Emmi hatte als Sekretärin gearbeitet bis ihre Kinder zur Welt kamen, seitdem hat sie sich dem Hausfrau- und Mutterdasein gewidmet. Ihr Mann verdiente genug, und sie hatten ein zufriedenes Leben mit den einen oder anderen Annehmlichkeiten. Mit Flaschenpfand gerade so über die Runden weiterlesen

Times are changing oder nicht?

Was ist heutzutage eigentlich anders als vor 100 Jahren?
Halbwüchsige Jugendliche haben schon immer Blödsinn gemacht und bestehende Regeln missachtet und teilweise überschritten.
Ach ja, die U-Bahn, schon damals lieber mehr als zu wenig. Heutzutage gibt es heftige Diskussionen über U7-Verlängerung oder nicht.
Nicht zu vergessen, das Tempelhofer Feld. Damals diente es der Volkserholung und war ebenso heiß geliebt wie heute. Und, by the way, auch bei schlechtem Wetter, ja, richtig gelesen, nutzen heutzutage tausende Menschen täglich das Feld.
Also, ich resumiere: Namen und Preise ändern sich, die Bedürfnisse der Menschen nicht!

Beate Storni

Atemlos durch die Nacht – Teil 2

Quarantänestation kommt für manche Obdachlose zu spät

»Haste das von Manne gehört?«
Manne? Hm. Ich überlege angestrengt, wer das sein könnte.
»Man, Manne kennste! Streunt immer am Bahnhof rum, rotes Base­cap, blau-weiße Trainingsjacke, hängt oft mit Rosi und ihren Leuten ab.«
So langsam bekomme ich ein Bild. Hab ihn manchmal gesehen, die Sympathiefunken waren aber nie übergesprungen. Armer Tropf. Wie wir alle.
»Wat is’n passiert? Erzähl doch endlich und quatsch nicht lang rum.«
»Der ist tot.« Er schaut mich herausfordernd an, Gefallen daran findend, dass er mehr weiß als ich. »Nun sag schon!«
»Viel weeß ick och nicht. Hatte ihn vor vier Wochen abends unter der Brücke gesehen. Sah nicht gut aus. Hatten ein bisschen gequatscht. Er sah beschissen aus, hat gehustet wie Sau. Er meinte, er hätte sich infiziert, wisse aber nicht wohin.«
Ich denke über das Gesagte nach. Seit ein paar Tagen erst gibt es eine Quarantäneeinrichtung für Obdachlose. Das habe ich den U-Bahn- Fernsehern entnommen.
»Gestern habe ich Rosi getroffen. Hat mir erzählt, dass Manne weg ist. War wohl elendig zum Schluss. Eines Morgens hatte ihn ein Radfahrer gefunden.«
Ich schüttle den Kopf betrübt und überlege, ob er noch leben könnte, hätte man früher eine Quarantänelösung gehabt.

mg

Atemlos durch die Nacht

Mit Corona gibt es keinen Schlafplatz

Ich stehe wie so oft in der Schlange zur Notunterkunft. Heute ist kein guter Tag um draußen zu schlafen. Der Wind peitscht um die Häuser und hat Regen im Gepäck. Mich fröstelt es schon den ganzen Tag, und ich bin unendlich müde und erschöpft.
Ich bin an der Reihe und ich habe Glück, es hat für heute noch einen Platz frei. Nur noch den Schnelltest, und dann kann ich mich im Zimmer einrichten und das Abendessen geniessen.
Während ich auf das Ergebnis warte, versuche ich anhand des Küchenduftes zu verorten, was es geben könnte. Es riecht nach Kartoffeln und Suppengrün. Hoffentlich was mit Hühnchen.
Ich werde aus den Gedanken gerissen. Die freundliche Mitarbeiterin kommt mit besorgtem Blick auf mich zu. Der Test ist positiv. Sie könne mir heute und die nächste Zeit keine Schlafmöglichkeit anbieten. Atemlos durch die Nacht weiterlesen

Plötzlich vor dem Aus

Corona, Krise, Wohnungslosigkeit

Bis vor Kurzem war noch alles normal und ok. Nicht perfekt und sicher nicht sorglos, aber ok. Eine kleine Wohnung in einer Hochhaussiedlung. Nichts besonderes, aber meins.
Eigentlich bin ich mit meiner kleinen Rente immer ganz gut zurechtgekommen, es blieb nichts übrig am Ende des Monats, doch Hunger leiden musste ich die letzten Jahre nicht.


Seit ein paar Monaten stehe ich vor dem Nichts. Ich kann gar nicht genau sagen, was und wie es passiert ist. Die letzten zwei Jahre waren hart für mich. Schon das Coronavirus hatte mich emotional aus der Bahn geworfen. So viel Wut und Ärger zwischen den Gemütern. Ich selbst hatte grosse Angst, mich anzustecken und habe mich immer mehr zurückgezogen. Ich wurde einsam und depressiv.
Ich schaffte es plötzlich nicht mehr, Termine wahrzunehmen und öffnete meine Briefe nicht mehr. Plötzlich vor dem Aus weiterlesen

Liebe ist die Antwort

Impression über die neue Zeit von Krieg und Frieden

Dieses hier abgedruckte Bild hat mich tief berührt und Freude und Hoffnung geweckt. Es wurde vor der Corona-Welle aufgenommen, in Kiel, beim 7. »Café International«. Der Verein »Kilian e.V« konnte in diesem Jahr zum ersten Mal seither dieses Café wieder veranstalten. Vor und in dem »Flandernbunker«. Der war im Zweiten Weltkrieg Marinestützpunkt, im »Reichskriegshafen Kiel«. 2001 ersteigerte »Kilian« den Bunker, um dort ein Mahnmal gegen Krieg und einen Ort für Gedächtniskultur zu eröffnen.

Frieden heißt Liebe.        Foto: Jens Rönnau

Die Botschaft ist eindeutig, Liebe ist die Antwort auf Feindseligkeiten. Ja. Leider greift das zu kurz, nicht erst seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine. Weltweit flüchten Menschen vor Gewalt und Krieg, leider bereits seit langem. Unsere Augen öffnen sich dafür jetzt zunehmend. Doch wir erfahren mitten in Europa tatsächlich eine »neue Zeit«. Diese prägt auch unsere Sprache. Liebe ist die Antwort weiterlesen

Sein oder nicht sein

Eine philosophische Betrachtung

Sind wir existent, nur weil wir leben? Ich fühle mich oft nicht existent, obwohl Blut durch meine Gefäße rauscht und die Synapsen in meinem Kopf auf Hochtouren arbeiten. Trotz dieser eindeutigen Lebenszeichen weiß keiner, wer ich bin, und es würde mich keiner vermissen, wenn ich von heute auf morgen nicht mehr da wäre.


Das Sein im großen und ganzen Zusammenhang, die eigene Existenz, erscheinen auf der Metaebene bedeutungslos. Dennoch handeln die Menschen oft so, als sei ihr eigenes kleines Leben derart bedeutend für den Fortbestand des Universums. Völlige Überschätzung der eigenen Bedeutung. Egozentriert und selbstgerecht. Sein oder nicht sein weiterlesen

Rabotajet

Arbeitsplatz U-Bahn

Mitten drin und nicht dabei. Grelles U-Bahn Licht scheint mir in die Augen. Tausend Gerüche überfordern meine Nase. Ich rieche Kaffee, Gebäck, Parfüm, Zigarettenrauch und einen Grundton aus Urin.
Auf den Bänken liegen in Decken gehüllt weitere Leidensgenossen, die noch nicht die Notwendigkeit zum Aufstehen sehen. Schon beneidenswert so ein tiefer Schlaf. Ob mit oder ohne Hilfsmittel habe ich nur einen leichten Schlaf. Bin sehr schreckhaft. Immer auf der Hut. Als Frau hat man es nicht leicht auf der Straße. Manche hatten Pech.
Die nächste Bahn kommt an. Ich steige ein. Noch grelleres Licht. Alle Sitzplätze belegt. Die Stimmung scheint ok zu sein. Ich gehe noch einmal meinen Text im Kopf durch und höre mich dann nach einem tiefen Atemzug sagen: «Entschuldigen Sie die Störung, ich bin seit zwei Jahren obdachlos und auf Hilfe angewiesen. Wenn der eine oder andere vielleicht ein wenig Kleingeld oder etwas zu Essen hätte, wäre mir schon sehr geholfen. Vielen Dank und einen schönen Tag.« Meine Stimme hört sich gedämpft und weit weg an. Mit Tunnelblick laufe ich durch die Abteile. Meinen Text lasse ich wie von einer Platte ablaufen. Früher habe ich mich sehr geschämt Menschen anzubetteln, mittlerweile bin ich selbst emotional so abgestumpft, dass es mir egal ist. Geistesabwesend wandele ich durch den Zug. Becher links halten, Becher rechts halten. Text. Weiter. Rabotajet weiterlesen

Großstadtmorgen

Eine starke Müdigkeit

Ich werde wach. Ein frischer Wind pfeift mir um die Nase. Der Geruch der noch schlafenden Großstadt stimmt mich friedlich und sentimental zugleich.

Ohne weitere Beachtung.        Foto: sl

Ich höre Schritte, die an mir vorbei gehen. Ich halte meine Augen geschlossen und stelle mich schlafend. Es ist noch zu früh für mitleidige Blicke. Halb dösend, halb wach überlege ich, was mir der Tag bringen könnte. Es wäre schön, einen Ruhetag zu haben. Mein knurrender Magen reißt mich aus der beginnenden Fantasie eines normalen Lebens.
Es nützt nichts. In meiner Tasche finde ich 28 Cent, das reicht gerade mal für ein trockenes Brötchen. Bei dem Gedanken merke ich, wie ausgetrocknet mein Mund ist. Ich greife nach der Wasserflasche in meinem Rucksack und trinke den Rest leer. Mit dem Pfandgeld komme ich auf zwei trockene Brötchen. Das ist ein Anfang.
Ich setze mich auf. Mein Kopf schwirrt. Ich reibe mir die Augen. Ich habe keine Lust.
Menschen gehen an mir vorbei. Die wenigsten nehmen Notiz von mir. Sie schauen auf ihr Smartphone oder drehen den Blick in eine ganz andere Richtung. Großstadtmorgen weiterlesen

Fenstergespräche

Veränderungen in der Weserstraße

KuK: Welche Themen bewegen dich in deinem Kiez?
Jakob: Ich wohne seit sechs Jahren hier in der Weserstraße. Hier hat sich vieles zum Guten verändert, weil die Gegend an Lebensqualität gewonnen hat. Als ich hierher gezogen bin, war ab der Fuldastraße gefühlt Schluss mit Bars und Kulturangebot. Jetzt ist hier schon um einiges mehr los. Der Trusepark wurde erneuert, die Fahrradstraße am Kanal ausgebaut, man merkt, dass hier investiert wird. Natürlich birgt das auch Gefahren, wie zum Beispiel Gentrifizierung. Hier im Haus wohnt eine ältere Dame, die bei jeder Mieterhöhung wieder zum Amt muss, weil sie so eine kleine Rente erhält. Das ist ein riesiger Stressfaktor für sie. Fenstergespräche weiterlesen

Fenstergespräche

Fahrradstraßen und Freizeitangebote

KuK: Welche Themen bewegen dich besonders in deinem Kiez?
Dorothea: Besonders beschäftigt mich, dass ich immer besser mit meinem Fahrrad im Kiez unterwegs sein kann. Ich komme hier auf der Sonnenallee oft in gefährliche Situationen und fühle mich auf dem Rad nicht geschützt. Wenn ich auf Seitenstraßen ausweichen möchte, ist auch der Belag ein wichtiges Thema, weshalb ich mich freue, dass nun die Innstraße als Verbindung geteert wurde. Besonders wichtig ist die neue Fahrradstraße am Weigand­ufer mit Plakaten, die für Aufklärung sorgen. Die dort getroffenen Maßnahmen entspannen einfach den Alltag, man kann sich viel freier bewegen, ohne Angst zu haben, überfahren zu werden. Ich beob­achte, dass nun mehr Fahrradstraßen ausgebaut werden mit Sicherheitspollern, wo keine Autos in zweiter Reihe parken und das Fahrradfahren in Neukölln endlich Spaß macht. Früher hatte ich das Gefühl, sobald ich den Bezirk verlasse, gibt es Radwege, aber in Neukölln war da nichts. Ich wünsche mir, dass auch in anderen Ecken des Bezirks so viel getan wird, Beispiel Hermannstraße, das ist noch immer eine Katastrophe. Fenstergespräche weiterlesen

Fenstergespräche

Blick auf Wohnwagen

KuK: Was beschäftigt Sie hier in der Oderstraße?
Halil: An sich ist alles gut, man kommt gut miteinander aus. In der Oderstraße gibt es mir mittlerweile nur zu viele Campingwägen. Es werden immer mehr, die ganze Straße ist voll damit. Ein paar Leute die campen, damit habe ich kein Problem, aber hier ist das ganze Jahr über alles zugeparkt, und als Anwohner findet man kaum noch einen Platz, das ist manchmal nervig. Außerdem stört mich der permanente Hasch- und Grasgeruch, der von der Straße hier in die Wohnung zieht und schwer wieder rauszubekommen ist.
KuK: Haben Sie in letzter Zeit sonst noch etwas beobachtet im Kiez?
Halil: Nebenan wohnt ein Mann in seinem Auto, einfach auf der Straße. Klar, er hat ein Dach über dem Kopf, aber ich kann nicht zusehen, wie jemand so vor sich hinvegetiert. Der Mann ist krank und braucht Hilfe. Ich möchte ja was tun, aber was? Ihm jeden Tag eine Stulle machen? Wir alle haben unsere Last zu tragen und können nicht immer für alle da sein. Die Stadt müsste sich mehr engagieren. Es muss doch möglich sein, die Grundbedürfnisse aller Menschen hier abzudecken. Der Mann kann ja noch nicht mal duschen. Es braucht mehr Angebote der Stadt, um die Leute von der Straße zu holen, gerade wenn sie psychische Krankheiten haben. Leider werden diese Probleme in der Politik gern vergessen, und manchmal könnte ich resignieren, wenn ich sowas sehe. Aber eins ist klar: Man darf die Hoffnung nicht verlieren –weiterkämpfen, auf die Straße gehen.

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*Halil, Oderstraße

Fenstergespräche

Bremsschwellen und Verdrängung

KuK: Was beschäftigt dich im Kiez?
Max: Als erstes fällt mir die Verkehrslage in der Donaustraße, an der Ecke zur Erkstraße, ein. Hier ist eigentlich eine Tempo 30 Zone, nur leider hält sich kaum ein Autofahrer an die Begrenzung. Im Hochparterre sorgt das für mächtig Lärm und auf der Straße für eine hohe Unfallgefahr. Ich habe in den vergangenen Jahren schon mehrere Unfälle gesehen, die durch zu schnell fahrende Autos verursacht wurden. Ich wünsche mir auf der Höhe des Lidl Supermarkts Bremsschwellen, damit dieses Risiko ganz einfach ausgeschaltet wird. Fenstergespräche weiterlesen

Fenstergespräche

Von Hilfsbereitschaft und Müll

KuK: Was beschäftigt Sie zur Zeit im Kiez?
Frau Bandlow: Was ich schlimm finde hier in der Geygerstraße, ist der Müll. Jeden Tag liegt wieder was da. Man kann mit den Leuten reden wie man will, da ändert sich nichts. Beim Ordnungsamt kann man zwar anrufen, wenn da aber täglich was neues liegt, bringt das auch nichts. Wir haben kein Internet, deshalb kann ich neue Angebote zur Meldung solcher Missstände nicht nutzen.
KuK: Was ist besonders schön in Ihrem Kiez?
Frau Bandlow: Die Hilfsbereitschaft. Ich habe eine Behinderung und bin deshalb auf meine Gehhilfe angewiesen. An der U-Bahnstation muss ich nur mit meinem Rollator in die Nähe der Stufen fahren und schon werde ich gefragt, ob ich Hilfe brauche. Besonders die jungen muslimischen Frauen und die Flüchtlinge sind sehr engagiert. Die sprechen oft gar kein Deutsch, aber versuchen mit Händen und Füßen zu erklären, dass sie mir gerne helfen.
KuK: Haben Sie einen Tipp für die heißen Tage?
Frau Bandlow: Ich gehe nicht mehr viel raus wegen meiner Behinderung. Bei solchen Temperaturen wie jetzt mache ich gern alles dunkel und schließe die Fenster, damit die Wohnung nicht zu heiß wird.
*Frau Bandlow, Geygerstraße – Name auf Wunsch geändert.

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»Schön wie Bier«

Prost auf Neukölln

Inzwischen ist es keinem Neuköllner entgangen, dass der Bezirk schöner werden soll. Die ehemalige Bürgermeisterin Franziska Giffey schritt damals mit einem pinkfarbenen Besen beherzt zur Tat. Ihr Nachfolger Martin Hikel setzte die Aktion fort.
Trotz aller Bemühungen fruchtet die Kampagne nicht so wie gewünscht. Noch immer liegt Sperrmüll auf den Gehwegen, Hundekacke entwickelt sich nach wie vor zu Tretminen und Plastiktüten fliegen den Menschen um die Ohren.
Der Ruf nach einer Neuauflage wurde in der Bezirksverordnetenversammlung (BVV) immer lauter. Nun hat das Gremium bei seinem letzten Zusammentreffen reagiert. Es wird eine neue Kampagne geben.
»Schön wie Bier« löst »Schön wie wir« ab. Der gemeine Neuköllner trinkt gerne Bier, außerdem macht Bier, insbesondere Weizenbier, schön. Die Wirtschaft würde angekurbelt werden, und davon profitieren auch die Brauereien im Bezirk. »Schön wie Bier« weiterlesen

Kindl im Garten

von Eddy Buttelmann

                                                                                                                                                       Foto: Eddy Buttelmann

Nachdem der Kartoffelacker im Garten meiner Tochter fast fertig war, stieß ich mit dem Spaten auf etwas Hartes, Blechernes. Ein rostiges Schild mit drei blonden Kinderköpfen und einer Flasche Bier kam zum Vorschein. Dieses blecherne Werbeschild der »Berliner Kindl Brauerei« hing jahrelang an der Laube, bis es mein Freund aus Frankfurt am Main bei einem Besuch entdeckte und es mir abkaufen wollte. Ich fand, es war doch wertlos und schenkte es ihm. Er fuhr mit der U-Bahn, stolz das Schild vor der Brust und freute sich. Junge Menschen fanden das Schild toll und freuten sich mit ihm.
Neulich besuchten uns die Freunde aus Frankfurt. Und bei Kaffee und Kuchen legte er mir ein Bündel Geldscheine auf den Tisch. Ich war verblüfft und fragte, was das solle. Dann gab er mir die Kopie von jenem besagten Kindl-Schild und erzählte uns die Geschichte, wie es zum Verkauf dieses Schildes kam. Auf einem Verkaufsportal bot er es an und erzielte die stattliche Summe von 131 Euro.
Wir waren so überrascht und überaus erfreut, dass wir anschließend ein üppiges Mahl im Italienischen Restaurant einnahmen und selbstverständlich bezahlten.
Das Leben steckt manchmal voller Überraschungen. Mein Dank gilt meinen Freunden.
Ich werde jetzt den ganzen Garten umgraben, wo ist mein Spaten?

Deutschland wählt

Der Gnom aus Neukölln macht sich Gedanken zur Bundestagswahl

Die Wahlen für die Zusammensetzung des nächsten Bundestages stehen vor der Tür. Im Grunde gibt es viel Normalität. Die Rituale sind hinlänglich bekannt. Vom Verlauf des sogenannten Wahlkampfs bis zum Prozedere der Auszählung und Verkündung des »amtlichen« Endergebnisses, eine ewige Wiederholung des immer Gleichen.
Was also hat der statis­tische »Durchschnittsneuköllner« mit seinen hinlänglich bekannten Problemen bei der Bewältigung des Alltags mit diesem »Wahltheater« zu tun? Die »Autonomen« und alle anderen Verfechter des Selbstverwaltungsgedankens wissen nur zu gut: Du musst deine Interessen in die eigenen Hände nehmen und mit den jeweils geeigneten Mitteln dafür sorgen, dass sie in den Parlamenten behandelt und durchgesetzt werden oder eine zivilgesellschaftliche Gegenmacht für deren Durchsetzung sorgt. Deutschland wählt weiterlesen

Allee der Sonne

Von Hubschraubern und Waschanlagen

Eine Tankstelle, ein Fußballplatz, ein Polizeirevier, eine Bushaltestelle und in Sichtweite, aber in so großer Entfernung, dass das Kindergeschrei nicht mehr hörbar ist, ein kleiner Spielplatz – die Aussicht vom Balkon an der Sonnenallee. Hinzu kommen diese kleinen aber feinen Geschichten.


Unser Neukölln erwacht so ungefähr um 11 Uhr – der Wochentag bleibt dabei unbeachtet, ausgenommen davon sind der Berufsverkehr und die Schulkinder. Allee der Sonne weiterlesen

Rollberger Geschichten

Wie Mandy zu einem Hund kam

mandy-eiszapfenAn allen Regenrinnen, über und unter allen Fenstern hingen riesige Eiszapfen. Seit einer Woche wohnte ich in Neukölln in einer neuen Wohnung zur Zwischenmiete. Es hatte geklopft, und vor der Tür standen eine Frau und ein Mann, beide etwa Mitte dreißig. Sie trug einen grünen Freizeitanzug, rote Turnschuhe, ein weißes, mit Silberfäden durchwirktes Halstuch und goldenen Nagellack. Er trug Jeans, Pulli, Jacke, Turnschuhe – alles nagelneu – und einen in den Konturen haargenau ausrasierten Dreitagebart. Es war meine erste Begegnung mit Mandy und Khalid. Rollberger Geschichten weiterlesen

Rollberger Geschichten

Mandy ist glücklich

Mitten zwischen den langen, viel zu vielen sonnenlosen und dunklen Tagen voller Nebel, Regen und nicht mehr zu leugnender Kälte gab es diesen einen angenehm milden Herbst­abend. Mandy hatte mich eingeladen. Wir saßen ein letztes Mal vor dem Winter auf ihrem Balkon, zwischen uns auf dem Tisch zwei volle Gläser Futschi. Sie blies über ihre frisch lackierten Fingernägel, ließ sich im Liegestuhl nach hinten sinken und schloss die Augen. Überrascht bemerkte ich, dass ihr rosa Nagellack zum Rot ihres neuen Freizeitanzugs passte.

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Im Park vor uns stritt sich lautstark und lallend ein Paar, das wir von unserem Platz aus nicht sehen konnten. »Du hast schon wieder von meinem Geld Bier gekauft!« »Du hast doch schon seit einer Woche kein Geld mehr!« Ein Krankenwagen fuhr mit Blaulicht direkt am Haus vorbei, ihm folgte ein Polizeiauto, ein Feuerwehrwagen und noch ein Polizeiauto – alle mit ohrenbetäubend lauter, sich in den Ohren überschlagend schriller Sirene. Als das Heulen leiser wurde, Rollberger Geschichten weiterlesen

Rollberger Geschichten

Mandys Rache

»Ick muss mal dringend für ’n paar Taje zu ’ner Freundin nach Spandau. Khalid is och wech. Hier!« sagte Mandy, als sie vor ein paar Tagen in ihrem pinken Lieblingsfreizeitanzug und mit frischlackierten neongrünen Fingernägeln völlig unerwartet im Wedding vor meiner Türe stand. Sie drückte mir eine Tüte mit frischem Fleisch, eine mit Knochen und Jan Klodes Leine in die Hand. »Halt! Warte!!!« Umsonst, sie war weg.mandy_okt_1
Bis dahin dachte ich, ich liebe Hunde. Aber Jan Klode ist ein American Staffordshire Terrier. Sein Kopf ist zweimal so breit wie meiner und seine Kieferknochen, die Wangenmuskulatur und sein Gebiss sehen aus, wie sein Knurren klingt: böse!
Es ist Samstagabend, und wir machen unseren ersten Spaziergang in Neukölln, wo ich in einer Kneipe einen Freund treffen will. Auf der Sonnenallee steht vor einem völlig überfüllten Falafelimbiss ein mit irgendwem im Laden Englisch sprechender Typ in Trägershirt, mit tätowierten, muskulösen Oberarmen, Vollbart, iPhone und quergestelltem Singlespeed Rad mitten auf dem Weg – seelenruhig. Rollberger Geschichten weiterlesen

Rollberger Geschichten

Mandy ist wütend

Schon als Mandy die Türe aufmacht, bin ich alarmiert. Sie trägt einen neuen Freizeitanzug mit Leopardenmuster. »Det is doch ne jroße Scheiße!«, begrüßt sie mich. »–?–« »Kahlid kann nich wählen.« »–? –« »Er is weder deutsch noch aus Europa. Det is doch Scheiße!« »–« »Ick meine, weeßte, det heißt doch, fast janz Neukölln kann nich wählen.«

mandy_sept_1Um sich zu beruhigen, setzt sie sich auf den Balkon in ihren Liegestuhl zum Fingernägellackieren: schwarz, rot, anderes rot, grün, transparent; schwarz mit roten Sprenkeln, schwarz mit grünen Sprenkeln, braun mit schwarzen Sprenkeln, transparent, transparent. Ihr Gesicht verfärbt sich dunkel, und dann platzt es aus ihr heraus: »Ick meine, er is hier jeboren, zur Schule jejangen, er arbeitet hier und allet, aber det lassen se ihn nich machen!« Ich sage lieber nichts und warte ab. Selbst Jan Klode, der unter ihrem Stuhl liegt, hört auf zu hecheln und rührt sich nicht mehr. Rollberger Geschichten weiterlesen

Rollberger Geschichten

Mandy schweigt

Mandy lackiert sich die Fußnägel und sieht mich nicht an. Wir sitzen auf ihrem kleinen Balkon mitten im Rollbergviertel und sie schweigt schon seit mindestens fünf Minuten. Das ist, seit wir uns kennen, noch nie passiert. »Mandy, was hätte ich denn machen sollen? Ich habe alles versucht.« Zwischen ihre Zehen hat sie kleine, lange, mandy_lackiert_2schmale, selbstgemachte Abstandhalter aus Pappe geschoben. »Du weißt ganz genau, dass ich ein halbes Jahr lang nichts anderes mehr gemacht habe, als eine Wohnung in Neukölln zu suchen. Jeden Tag habe ich direkt nach dem Aufwachen und noch vor dem Aufstehen in meine Mails und Apps geguckt. Jeden Tag habe ich mindestens fünf Besichtigungstermine vereinbart. Jedes Mal waren Rollberger Geschichten weiterlesen