Fred Haase ist umfassend informiert
Ich traf beim Gang zur Bushaltestelle meine Nachbarin S.. Sie ist frohmutig, meistens gut gelaunt und noch sehr dynamisch für ihre 71,3 Jahre. Sie beherrscht eine besondere Atemtechnik. Ihr Gegenüber staunt, dass sie ohne Luft zu holen zwölf Minuten pausenlos reden kann. Über fast alles, was in ihrem Umfeld passiert, ist sie bestens informiert. So haben die Bewohner unserer Siedlung Techniken entwickelt um galant Begegnungen mit ihr zu managen. Je nach Stimmung und Blutdruck wird entweder die eigene Zeitplanung komplett ignoriert oder Ausreden mit gehetzter Stimme leidend formuliert wie zum Beispiel Diarröh oder vergessen den Lockenstab auszuschalten (Nachzulesen in meinem Buch »Ausreden die Freude machen«).

Ich hatte nun heute Zeit und außerdem noch keine gute Tat vollbracht. Also, gute Voraussetzungen die nächste Zeit menschlich zu gestalten. Ich nahm die Kartoffelsackhaltung ein und federte leicht mit den Fersen. Mein Lächeln war gemäß meines Volkshochschulkurses perfekt: Die Lippen waren symmetrisch. Sowohl die Ober- als auch die Unterlippe waren gleichmäßig geöffnet um das Lächeln auszugleichen. Ebenso war die Mitte meiner Lippen mit der Mitte des Gesichts übereinstimmend. Die Krümmung des Lächelns entsprach dem Bogen meiner Zähne. S. konnte loslegen.
Um die Geduld der Leser nicht zu strapazieren nur eine kurze Zusammenfassung ihres Monologes: Frau K. hat ihren Dackel Willi einschläfern lassen, im Nachbarhaus zieht ein Paar mit drei Kindern aus Absurdistan ein, Herr H. aus der Querstraße feiert seinen 80. Geburtstag, sie will drei Wochen nach Pforzheim zu ihrer Schwester reisen. Diese hat zwei neue Hüften, ihr Wellensittich sei zudem entflogen. Die Müllentsorgung wird um 17 Euro teurer, weil Mieter einfach frech ihren Sperrmüll auf die Straße stellen würden. Heute muss sie noch zum Arzt. Mittlerweile muss sie acht verschiedene Medikamente nehmen.
Als ich 30 Minuten später im Bus saß, war ich informativ satt. Dort traf ich den Sportskameraden Thomas. Wir begrüßten uns durch kräftiges Klopfen auf Schultern und Rücken. Trotz des nun eintretenden Schmerzes lächelte ich. Voller Begeisterung erzählte er von dem Sieg über seinen Fußpilz. Dann fragte er höflich, was es Neues gäbe. Ich konnte jetzt natürlich mit den bei mir gespeicherten News von Nachbarin S. angeben und erzählte mit Begeisterung: Frau K. hat ihren Dackel in Absurdistan einschläfern lassen, Herr H. will trotz seiner neuen Hüften zu seiner Schwester reisen, die Müllabfuhr wird um 80 Euro teurer und meine Nachbarin S. muss 17 verschiedene Medikamente nehmen. Neue Mieter aus Pforzheim ziehen in unsere Siedlung und Frau S. sind acht Wellensittiche entflogen. »Wahnsinn, was bei Euch alles so passiert!« sagte er voller Bewunderung.
Wir waren an unserem Ziel angekommen und verabschiedeten uns männlich. Drei Tage später, als meine Frau nach Hause kam, erzählte sie mir triumphierend, dass es interessante Neuigkeiten in unserer Siedlung gäbe. Hier schwang der Vorwurf mit, ich würde so wenig erzählen. Sie hätte Thomas getroffen und dieser erzählte ihr, dass der Dackel von Frau K. neue Hüften bekommen würde, dass die neuen Mieter aus Pforzheim ihren Wellensittich haben einschläfern lassen. Die Nachbarin S. muss leider 80 verschieden Medikamente nehmen, Herr H. wird für 17 Tage nach Absurdistan reisen, die Müllabfuhr acht Euro teurer werden.
Ich staunte nicht schlecht über mein schlechter werdendes Gedächtnis. Ich hatte ihre Erzählungen irgendwie anders in Erinnerung. Aber in meinem Alter versteht man vieles nicht im Original. Nun wusste ich über die Neuigkeiten in unserer Siedlung Bescheid und setzte mich gleich an meinen Computer und postete im Nachbarschaftsforum unter der Überschrift »Keine Fake News« die interessanten Neuigkeiten. Jetzt sind alle richtig gut informiert und können mitreden. Das ist eine Freude.