Neuköllner Alltägliches

Nachrichten aus Neuköllner Zeitungen vor 100 Jahren, bearbeitet von M. Rempe

Neuköllner Tageblatt, Sonnabend, 3.1.1920
Der Jahreswechsel ist in unserer Stadt in üblicher Weise gefeiert worden. Es ging zwar auf den Straßen sehr lebhaft zu, doch waren erfreulicherweise größere Störungen nicht zu verzeichnen. Vielen Unfug mit Feuerwerkskörpern verübte die liebe Jugend.

Neuköllner Tageblatt, Sonntag, 11.1.1920
Nachdem das inländische Funknetz weiter ausgebaut worden ist, soll in größerem Umfange von diesen Anlagen Gebrauch gemacht werden. Fortan behält sich daher die Reichs=Telegraphenverwaltung für die Abwicklung des telegraphischen Verkehrs im allgemeinen freie Wahl hinsichtlich des zu benutzenden Weges (Draht= oder Funkweg) vor. Befürchtet jedoch der Absender ein Mithören des Telegramms durch Unbefugte, was bei der Eigenart der drahtlosen Telegraphie nicht durchweg ausgeschlossen ist, und wünscht er daher ausdrücklich die Drahtbeförderung, so hat er im Telegramm­aufgabeformular an der für die Weg­angabe vorgesehenen Stelle den gebührenfreien Vermerk »Draht« niederzuschreiben. Das gleiche gilt für den Telegrammverkehr Deutschlands mit den europäischen Ländern, soweit die Gebühren auf dem Draht= und Funkverkehr gleich sind.

Neuköllner Tageblatt, Mittwoch, 14.1.1920
Straßenkämpfe vor dem Reichstag. Blutiges Ende der Demonstrationen. Die Demonstrationen gegen das Betriebsrätegesetz, zu welchen die Unabhängigen und Kommunisten ihre Anhänger am Dienstag aufgefordert hatten, nahmen leider ein beklagenswertes blutiges Ende.

Neuköllner Tageblatt, Donnerstag, 15.1.1920
Die Zahl der Opfer. Bei den Unruhen vor dem Reichstagsgebäude sind, wie jetzt endgültig feststehen dürfte, 42 Tote und 105 Verletzte gezählt worden. Von den Toten befinden sich einundzwanzig im Schauhaus, die übrigen in verschiedenen Krankenhäusern.

Neuköllnische Zeitung, Freitag, 16.1.1920
Die vereitelte Revolutionstotenfeier. Am gestrigen Donnerstag wollten die Kommunisten in der »Neuen Welt« eine Revolutionstotenfeier abhalten, wurden hieran jedoch durch den Ausnahmezustand gehindert. Bereits in den frühen Vormittagsstunden war, wie die B.S.=Korrespondenz meldet, ein Aufgebot der Sicherheitspolizei in Neukölln erschienen und hatte starken Patrouillendienst unterhalten. Am Hermannplatz sammelte sich wiederholt eine Menschenmenge, die versuchte, Demonstrationen zu veranstalten. Regelmäßig wurden die Ansammlungen von den Beamten der Sicherheitspolizei zerstreut. Der Höhepunkt des Andranges war um 2 Uhr, zu der für den Beginn der Trauerfeier angesetzten Zeit. Obgleich mindestens 10 000 Personen in der Hasenheide und auf dem Hermannplatz herumstanden, wurde von einer Absperrung der Straßenzüge vollständig abgesehen. Die Patrouillen sorgten lediglich dafür, daß niemand stehen blieb und daß keine bedeutenden Ansammlungen stattfinden konnten. Gegen 3 Uhr zerstreute sich die Menge.

Neuköllnische Zeitung, Donnerstag, 22.1.1920
Das Opfer von falschen Kriminalbeamten wurde die 73jährige Witwe Marie Nowoitnick in der Bergstraße 30=31 hierselbst. In ihrer Wohnung erschienen gestern vormittag drei Männer, die sich als Kriminalbeamte ausgaben und erklärten, sie seien beauftragt worden, eine Durchsuchung der Wohnung nach Heilmitteln vorzunehmen. Der eine der Männer »legitimierte« sich durch Vorzeigung einer Marke, die sich an einer Kette befand. Er zeigte auch ein Päckchen mit einer Flasche vor und sagte, der Inhalt sei für Geschlechtskranke. Nachdem die Drei die Wohnung gründlich durchstöbert hatten, entfernten sie sich wieder. Nun merkte Frau N. zu ihrem Schrecken erst,daß eine Zigarrenkiste mit 3150 Mark Bargeld fehlte. Natürlich waren die angeblichen »Kriminalbeamten« Schwindler gewesen.

Die Transkription der Zeitungstexte wurde mit Fehlern in der Rechtschreibung aus den Originalen von 1920 übernommen. Die Originale befinden sich in der Zentral- und Landesbibliothek,
Breite Straße 30, 10178 Berlin.

Die Welt am Draht

Das Telegramm – E-Mail des analogen Zeitalters

»Ankomme Freitag den 13. um 14 Uhr Christine« sang Reinhard Mey. Er kannte noch das Telegramm, mit dem im analogen Zeitalter Liebe geschworen, Kriege erklärt, Triumphe verkündet wurden.
Alles begann im revolutionären Frankreich, wo Claude Chappe 1791 den optischen Telegrafen entwickelte und die Zeiten beendete, in denen Nachrichten per reitendem Boten übermittelt wurden. Auf Holzgerüsten angebrachte Flügelarme konnten durch unterschiedliche Stellung zueinander knapp 200 verschiedene Zeichen »winken«. Ein Fernrohr machte die Entschlüsselung der Botschaften möglich – wenn das Wetter mitspielte.

Morseapparat.

Einfacher wurde es, als der deutsche Arzt Thomas von Sömmering 1809 einen Telegrafen auf elektrochemischer Grundlage entwickelte. 1837 gelang es dem amerikanischen Erfinder Samuel Finley Morse, Nachrichten mithilfe eines Punkt-Strich-Codes direkt auf einem Papierstreifen aufzuzeichnen – das Morsen war erfunden.
Plötzlich rückte die Welt näher zusammen. Flächendeckende Kabelnetze entstanden, auch durch den Atlantik zwischen Europa und Amerika.
Die neue Technologie entfachte eine Dynamik, die nur mit dem Internetboom seit Ende des 20. Jahrhunderts vergleichbar ist.
Um das Jahr 1920 kam in Deutschland das Telegramm auch im Alltag der Mittelschicht an. Die hohen Kosten – bezahlt wurde pro Wort – brachten einen äußerst reduzierten und bald sprichwörtlichen »Telegrammstil« hervor, der den heutigen SMS-Abkürzungen gar nicht so unähnlich war.
Allerdings hatte das drahtgebundene Telegrafennetz auch Nachteile. Schiffe waren für Nachrichten nahezu unerreichbar, sobald sie den Hafen verlassen hatten. Das Problem löste Heinrich Hertz, als er 1888 elektromagnetische Funkwellen für die drahtlose Telegrafie nutzte.
Grundproblem beim Funk jeoch war, dass die gesendeten Nachrichten abgehört werden konnten. Daher wurde im Militärfunk ein ausgeklügeltes Chiffrierverfahren genutzt, das Nachrichten verschlüsselt sendete und vom Empfänger erst wieder umgewandelt werden musste.

mr