Petras Tagebuch

Wer ist ein Berliner?

In dieser Wahnsinnskälte, die in den letzten Tagen herrschte, als Ostwind die Marktstände auf dem Kranoldplatz zerzauste, beob­achtete ich eine Dame, die um Unterschriften warb. Es ging um das Volksbegehren »Berliner Bündnis für mehr Personal im Krankenhaus«.
Ein mühsames Unterfangen auf einem Markt, der nur zum Teil von Alt-Neuköllnern besucht wird. Die meisten Kunden auf dem Markt sind jedoch neu Hinzugezogene.
Bei dem ersten Mann, den die Dame um seine Unterschrift bat, scheiterte es schon an der Sprache. Er wohnt erst seit kurzer Zeit in Neukölln und versucht sich gerade in Deutsch, aber sein Englisch verriet eindeutig seine Herkunft.
Die Fragerin ließ sich nicht entmutigen. Es ging weiter: Die nächste Person, wieder ein Mann, kam aus der Schweiz und hat in Berlin kein Wahlrecht.
Endlich hatte sie Glück. Eine alt eingesessene Neuköllnerin konnte dann unterschreiben. Mit neuem Mut wurden weitere Personen angesprochen. Nur leider ging sie auf eine Gruppe ganz junger Leute zu, die zwar volljärig aussahen, es aber nicht waren.
Sichtbar litt die Fragerin unter der Kälte. Es gab keinen Glühwein auf dem Markt, nur Kaffee, der sie nicht so recht wärmen konnte.
Eine weitere Unterschrift erhoffte sie sich von einem Bilderbuchneuköllner. In seiner Berliner Art und Schnauze jagte er die Frau davon: »Such dir doch deine Unterschrift, wo du willst, aber nicht mit mir!« Als nächstes scheiterte sie an einer Österreichischen Staatsbürgerschaft, Elternbesuch aus Westdeutschland und dem Wohnsitz in Brandenburg.
Endlich ist sie bei mir angekommen. »Sie haben sicherlich gehört, wofür ich Unterschriften sammle?« »Nein, tut mir leid« musste ich ehrlich antworten. »Nun, es geht um die Krankenhäuser, in denen die Pflegekräfte völlig überlastet sind, und es werden keine weiteren Mitarbeiter eingestellt. Über den Volksentscheid soll nun Druck auf den Berliner Senat ausgeübt werden, damit er handelt.«
Ich war voll und ganz der Meinung dieser Dame. Ich hatte den Kugelschreiber für die Unterschrift bereits in der Hand, als sie mich fragte: »Sind Sie Berlinerin? Wahrheitsgemäß antwortete ich, dass ich keine Berlinerin sei. Flink wie ein Wiesel nahm sie mir den Kugelschreiber weg und verschwand.
Sicherlich bin ich keine geborene Berlinerin, aber meine Meldeadresse ist hier und die längste Zeit meines Lebens lebe ich in Berlin.