Neuköllner Alltägliches

Nachrichten aus Neuköllner Zeitungen vor 100 Jahren, bearbeitet von M. Rempe

Neuköllnische Zeitung, Donnerstag, 1. 5. 1924
Ein Ungeheuer. Bei der Neuregelung der preußischen Amtsbezeichnungen sind wiederum einige Wortungeheuer entstanden; so führen jetzt die Lehrer der Schiffsingenieurschulen die Amtsbezeichnung »Schiffsingenieurschuloberlehrer«. Uff

Neuköllnische Zeitung, Freitag, 9.5.1924
Der Tod des alten Tigers im Zoo. Im Zoologischen Garten wurde heute der alte Tiger von seinem Wärter Olsen erschossen. Er ist einer der ältesten Freunde der Zoogäste. Er war einmal ein wunderschönes Tier, ein wahrer König des Dschungels. Im Kriege bekam er meist nur Mohrrüben – wahrlich kein Essen für einen Tiger – er magerte ab und schlich wütend in seinem viel zu weit gewordenen Fell=Paletot herum. Nach dem Krieg schien er sich zuerst rasch zu erholen, aber er hatte doch seinen Knacks weg. Seit ein paar Wochen ging es mit ihm zu Ende, er konnte sich kaum mehr auf den Beinen halten, seine Augen schwollen zu.

Neuköllnische Zeitung, Freitag, 9.5.1924
Die städtische Schulreinigung. In mehreren Verwaltungsbezirken Berlins sind die Kosten der Schulreinigung dadurch herabgesetzt worden, daß die Reinmachefrauen nicht mehr auf Tarifvertrag angestellt werden, sondern es werden den Schulhausmeistern bestimmte Pauschbeträge überwiesen, aus denen sie die von ihnen angenommenen Reinmachefrauen entlohnen. Bisher wurden hierbei niedrige Tariflöhne gezahlt, so daß es in verschiedenen Bezirksversammlungen zu lebhafter Kritik dieses Verfahrens kam. Der Magistrat hat jetzt dieses Pauschquantum der Schulhausmeister dergestalt erhöht, daß sie der zur Reinigung der Schule angenommenen Arbeitshilfe einen Stundenlohn von 30 Pfennig zahlen können.

Neuköllner Tageblatt, Mittwoch, 14.5.1924
Schutz für Hundefangbeamte. Wie der Berliner Polizeibericht meldet, hat das Publikum mehrfach Gewalttätigkeiten gegen die Hundefangbeamten verübt und in einem Falle sogar unter Beschädigung des Fangwagens 20 Hunde befreit. Bei der Wichtigkeit des Hundefanges für die Bekämpfung der Tollwut, die schon zahlreiche Opfer gefordert hat, werde es die Polizei als ihre besondere Pflicht betrachten, die ungestörte Tätigkeit der Fangbeamten, die zur Durchführung des Reichsviehseuchengesetzes erforderlich ist, zu ermöglichen. Die polizeilichen Dienststellen und ihre Beamten sind angewiesen worden, in nächster Zeit besonders auf die Fangbeamten zu achten und etwa erforderlichen Schutz bereitwillig und durchgreifend zu gewähren.

Neuköllner Tageblatt, Donnerstag, 29.5.1924
Die erste Rechtsanwältin in Berlin. Die bisherige Gerichtsassessorin, Fräulein Dr. Marie Munk, Tochter des ehemaligen Landgerichtsdirektors Wilhelm Munk in Berlin, ist als erster weiblicher Rechtsanwalt bei den Groß=Berliner Landgerichten zugelassen worden. Fräulein Dr. Munk ist die Verfasserin der dem Reichstag vorliegenden Denkschrift des Bundes Deutscher Frauenvereine: »Vorschläge zur Umgestaltung des Rechts der Ehescheidung und der elterlichen Gewalt.«

Neuköllnische Zeitung, Freitag, 30.5.1924
Uebler Einfluß schlüpfriger Lektüre. Durch das Lesen einer schlüpfrigen Zeitschrift mit Bildern, wie solche in Unmengen öffentlich verkauft werden und die wegen der raffinierten erotischen Aufmachung großen Absatz bei jungen Leuten finden, wurde der Arbeiter B. derart erregt, daß er in einem Stadtbahnabteil sich vergaß und ein widerlich unsittliches Betragen an den Tag legte. Diese Erregung öffentlichen Aergernisses hatte nun einen Strafantrag gegen den jungen Mann zur Folge. Es ist unverständlich, warum gegen das Erscheinen solcher, niedrigste Instinkte aufpeitschenden Zeitschriften nicht eingeschritten wird.

Die Transkription der Zeitungstexte wurde mit Fehlern in der Rechtschreibung aus den Originalen von 1924 übernommen. Die Originale befinden sich in der Zentral- und Landesbibliothek, Breite Straße 30, 10178 Berlin.

Marie Munk – eine Pionierin in der Robe

Die erste Rechtsanwältin und erste Richterin Berlins war eine Vorkämpferin für Gleichberechtigung

Als es in Frankreich, Italien oder den Niederlanden längst Anwältinnen und Richterinnen gab, wurde in Preußen noch über die geistige und körperliche Eignung von Frauen für die Jurisdiktion debattiert. Erst ab 1922 wurden Frauen für juristische Berufe zuge­lassen.
Marie Munk engagierte sich zunächst in der Frauen- und Sozialarbeit. Nach Ablegen des Abiturs studierte sie Jura in Berlin und Bonn und war eine der ersten Frauen, die 1911 in den Rechtswissenschaften in Heidelberg promovierten, damals für Frauen der einzige mögliche Abschluss des juristischen Studiums. Anschließend arbeitete sie in der Münchner Rechtsschutzstelle für Frauen, die Frauen juristischen Rat anbot, durfte aber ohne Staatsprüfungen Klienten gerichtlich nicht vertreten.
1924 konnte Marie Munk das zweite Staatsexamen ablegen und bekam die Zulassung als Rechtsanwältin. Damit gehörte sie zu den ersten deutschen Juristinnen und war die erste Rechtsanwältin in Preußen, verdiente allerdings als Pflichtanwältin für Mittellose wenig. Ihre Artikel in Fachzeitschriften fanden in Anwalt- und Richterschaft viel Beachtung.
Immer wieder erarbeitete sie Gesetzesvorschläge, die mehr Gleichberechtigung von Frauen im Nichtehelichen-, Scheidungs- und Eherecht zum Ziel hatten.
Am 11. August 1930 wurde sie am Landgericht Berlin III als erste Frau in Berlin zur Richterin auf Lebenszeit ernannt. Gleichzeitig engagierte sie sich in Frauenverbänden und widmete ihre Kraft dem Engagement zur Verbesserung der Stellung der Frau und der Hilfe für Jugendliche.
Wegen ihrer jüdischen Herkunft wurde sie 1933 aus dem Justizdienst entlassen und emigrierte 1936 in die USA, drei Jahre später wurde sie Gastprofessorin an einem College, 1943 bestand sie als erste Emigrantin die Prüfung zur Anwaltszulassung in den USA. Sie arbeitete in ihrer eigenen Kanzlei und studierte nebenbei, 1953 schaffte sie mit über 70 Jahren in Cambridge den Abschluss Bachelor of Arts. Während ihres über 40jährigen Aufenthaltes in den USA setzte sie ihre wissenschaftliche Arbeit vor allem auf den Gebieten des Familienrechts und der Jugendkriminalität fort.
Am 17. Januar 1978 starb Marie Munk, sie wurde 93 Jahre alt.

mr