Nachrichten aus Neuköllner Zeitungen vor 100 Jahren, bearbeitet von M. Rempe
Neuköllnische Zeitung, Mittwoch, 2.7.1924
Die erste deutsche Rechtsanwältin. Fräulein Dr. Marie Munk hat als erster weiblicher Rechtsanwalt ihren Einzug im Landgericht I zu Berlin gehalten und ihre ersten Verteidigungen geführt. Die Schilderungen der Presse stimmen darin überein, daß diese neue Erscheinung des Gerichtslebens voll schlichter Anmut sei. Ein feiner blonder Kopf von ausgesprochener Weiblichkeit, eine unauffällige Art der Bewegungen, eine tiefe, sympathische Stimme zu einem natürlichen, sicheren Auftreten. Sie wurde vom Vorsitzenden der Zivilkammer mit einer liebenswürdigen Ansprache begrüßt, ehe sie in die erste Verhandlung eintrat.
Neuköllnische Zeitung, Montag, 7.7.1924
Das Elend der Heimarbeiter. Ein wunderschöner Teppich oberschlesischer Handweberei aus Katscher wurde dem Preußischen Landtag vorgelegt. Für einen solchen Teppich, dessen Herstellung mindestens zehn bis elf Arbeitsstunden erfordert, bekommt der Hausweber ganze achtundsiebzig Pfennig Arbeitslohn! Der Verkaufspreis des Teppichs, in den für zehn bis zwölf Mark Wolle verwebt ist, beträgt etwa 40 Mark. Gerhart Hauptmanns Drama von den hungernden schlesischen Webern ist noch aktuell.
Neuköllner Tageblatt, Mittwoch, 9. 7. 1924
Der kommunistische Abgeordnete in der Badehose. Ein tragikomisches Mißgeschick traf dieser Tage den kommunistischen Reichstagsabgeordneten Thomas am Tegeler See. Thomas badete im See und hatte seine Sachen an einer Badestelle abseits vom Freibad an einen Baum gehängt. Er fand nur noch seine Sandalen wieder. Mit der Kleidung waren auch sein Reiseausweis 1. Klasse, seine goldene Uhr und 40 Rentenmark verschwunden. In einer benachbarten Schankwirtschaft, die er aufsuchte, wird man ihm wohl geholfen haben.
Neuköllner Tageblatt, Freitag, 11.7.1924
Neuerungen in der Amtssprache. In der letzten Nummer des Amtsblattes des Reichsministeriums wird das Wort »Radio« durch das Wort »Funk« ersetzt. Nach der neuen Verordnung gibt es ein Reichsfunknetz, Funkanlagen und Funkstellen. Radio=Amateure heißen jetzt »Funkfreunde« und die Antenne heißt »Luftleiter«.
Neuköllner Tageblatt, Mittwoch, 23.7.1924
Helft den Straßenbäumen! Die jetzige trockene Witterung spielt unseren Straßenbäumen böse mit, da die moderne Befestigung der Straßen den Bäumen nicht immer genügend natürliche Feuchtigkeit zukommen läßt, um ihr Blätterdach zu erhalten. Man kann jetzt schon an vielen Stellen das Gelbwerden der Blätter beobachten, namentlich haben die Bäume darunter zu leiden, in deren Nähe ein Gully eingebaut ist. Da der Magistrat anscheinend den Bezirksämtern keine genügenden Mittel zur Verfügung stellt, um die sonst übliche Bewässerung der Straßenbäume vorzunehmen, sei die Bürgerschaft aufgerufen, im Interesse der Allgemeinheit die Straßenbäume bewässern zu wollen.
Neuköllner Tageblatt, Donnerstag, 24.7.1924
Bubikopf=Tragödie in Schöneberg. Ein in der Akazienstraße angestelltes 19jähriges Dienstmädchen wollte die Bubikopfmode mitmachen und ließ sich ihr hübsches braunes Haar im Nacken abschneiden. Als sie vom Friseur nach Hause kam, war ihre Dienstherrin über die neue Frisur des Dienstmädchens sehr ungehalten und sagte, dass ihr der Bubikopf absolut nicht zu Gesicht stehe. Dies nahm sich das Mädchen so zu Herzen, dass sie sich in ihrer Kammer einschloß und den Gashahn öffnete. Man fand sie in tiefer Bewußtlosigkeit auf und mußte sie ins Krankenhaus bringen. Ihr Zustand ist ernst.
Die Transkription der Zeitungstexte wurde mit Fehlern in der Rechtschreibung aus den Originalen von 1924 übernommen. Die Originale befinden sich in der Zentral- und Landesbibliothek, Breite Straße 30, 10178 Berlin.
Ein Symbol von Modernität und Emanzipation
Der Siegeszug des Bubikopfs
Kurze Haare bei Frauen? Das war Anfang des 20. Jahrhunderts noch verpönt. Aber in den 1920er-Jahren hielt eine neue Frisur Einzug in deutsche Friseursalons und somit auf den Kopf der Damen: der Bubikopf.
Schauspielerinnen wie Asta Nielsen machten es vor, die Frau auf der Straße machte es nach. Eine wichtige Wegbereiterin der neuen Mode war die französische Modedesignerin Coco Chanel. Sie zeigte sich schon 1916 mit Kurzhaarschnitt, wadenlangem Rock und weitem Oberteil. Mit ihrer neuen und funktionalen Frauenmode und den kurzen Haaren war sie eine der Ersten, die eine Gegenbewegung zu dem damals für Frauen üblichen Aussehen initiierte.
Mit der »frechen« Frisur, bei der sich die Frauen ihre Haare so abschnitten, dass sie nur noch knapp über die Ohren reichten, eroberte ein neuer, moderner Frauentyp die Straßen der europäischen Großstädte.
Der neue Haarschnitt galt als Symbol für die Emanzipation der Frauen und war außerdem praktisch. Mit dem Bubikopf und der Möglichkeit, arbeiten zu gehen und auch ohne einen Ehemann Geld zu verdienen, wurden die Frauen immer selbstständiger. Nach dem Ersten Weltkrieg waren fast 40 Prozent der Berufstätigen weiblich, weil viele Männer gefallen waren oder im Krieg verwundet wurden. Dadurch, dass viele Frauen nicht mehr als Hausfrau oder Mutter arbeiteten, hatten sie noch weniger Zeit für aufwendiges Frisieren – der Kurzhaarschnitt war die Lösung.
Bei den Männern war er dadurch umso unbeliebter. Er galt als unethisch und unweiblich, denn langes Haar galt als Krone der Weiblichkeit. Den Frauen wurde deswegen Selbstverstümmelung vorgeworfen. Die Kirche hat den Bubikopf als gottlos angeprangert und Frauen mit kurz geschnittenen Haaren von den Sakramenten ausgeschlossen. Die Nationalsozialisten haben ihn als »undeutsch oder unpatriotisch« eingeordnet.
Ab den 1960er-Jahren wurde der Bubikopf weltweit wiederentdeckt und erlebte eine Renaissance. Bis heute ist die symbolträchtige Frisur nie wieder ganz aus der Mode gekommen.
mr