Neuköllner Alltägliches

Nachrichten aus Neuköllner Zeitungen vor 100 Jahren, bearbeitet von M. Rempe

 

Neuköllner Tageblatt, Dienstag, 6.3.1923
Ein erschütterndes Familienbild entrollt der Selbstmordversuch eines Jünglings. Gegen 11.30 Uhr nachts sprang der 16=jährige Arbeitsbursche Erich Rabuth aus der Forsterstraße 19 von der Hobrechtbrücke in den Kanal. Auf seine kläglichen Hilferufe wurde der junge Mann von Passanten und Schutzpolizisten wieder herausgezogen und nach der nächsten Rettungsstelle gebracht. Arbeitslosigkeit und unbeschreiblich traurige Familienverhältnisse hatten ihn zu dem Verzweiflungsschritt getrieben. Der 16jährige war buchstäblich der Ernährer seiner Mutter und seiner fünf jüngeren Geschwister, da der Vater sich um die Familie überhaupt nicht kümmerte. Aus der gleichen Veranlassung hat bereits vor einem Jahre die ältere Schwester ihrem Leben ein Ende gemacht.

Neuköllner Tageblatt, Dienstag, 6.3.1923
Der Gipfel der Diebesfrechheit. Neben den Weichen der Straßenbahn befinden sich bekanntlich schmale, mit einem eisernen Deckel versehene Schmutzfänger. In der Nacht zu gestern hatten in der Nähe der Ringbahn Spitzbuben mehrere dieser Deckel entwendet, wodurch wiederholt Radfahrer, die jene Strecke passierten, stürzten.

Neuköllnische Zeitung, Dienstag, 13.3.1923
»Bezuschussung«. Dieses Wort ist deutsch, es ist, der Zeitschrift des Deutschen Sprachvereins zufolge, die neueste glorreiche Errungenschaft auf dem Gebiete der Wortschöpfungen. In einer chemnitzer Stadtverordnetensitzung war jüngst von der »Bezuschussung« irgend eines städtischen Unternehmens die Rede, und in anderen Versammlungen wird gleichfalls schon flott »bezuschußt«. Wie schön wird sich das auf einer künftigen Tagesordnung gedruckt ausnehmen, wenn einmal die »Beanstandung« der Anberaumung einer »Bezuschussung« zur Beantragung kommt. »O, was ist die deutsch Sprak für ein arm Sprak, für ein plump Sprak!« sagt Riccaut de la Marliniere in Lessings »Minna von Barnhelm«. Hätte er heute gelebt, so dürfte er das nicht sagen, denn eine Sprache, die sich »Bezuschussung« leisten kann, ist ein »reich, ein überreich Sprak«. »Plump Sprak« würde allerdings zutreffen, wenn »Bezuschussung« – was Gott verhüten möge – allgemein werden sollte.

Neuköllnische Zeitung, Mittwoch, 14.3.1923
Mißglückte Versuche mit der Sprechmaschine im Reichstag. Im Reichstage ist kürzlich der Versuch gemacht worden, mittels einer Sprechmaschine die Reden der Abgeordneten aufzunehmen. Der Versuch muß als gescheitert gelten, da die Wiedergabe der Reden durch die Maschine sehr mangelhaft war. Ganze Teile der Reden waren nicht aufgenommen worden, weil der Redner nicht immer den Aufnahmekreis der Maschine beachtet hatte. Bewegte Sitzungen können durch den Apparat überhaupt nicht festgehalten werden, auch die Aufnahmefähigkeit der Platten ist zu gering. Die Abgeordneten waren jedenfalls von der Wiedergabe ihrer Rede durch die Maschine sehr enttäuscht und wollen am alten System der Stenographie festhalten.

Neuköllnische Zeitung, Dienstag, 27.3.1923
Verbot des Absinths. Ein dem Reichstage zugegangener Entwurf verbietet die Herstellung und den Ausschank von Absinth, weil er der Volksgesundheit unzuträglich ist und Epilepsieerscheinungen hervorruft. Der Absinthgenuß hat nach dem Kriege und jetzt im besetzten Gebiet Verbreitung gefunden. Von Frankreich aus wird der Absinthvertrieb gefördert. Absinthverbote sind bereits in vielen Ländern erlassen worden.

Die Transkription der Zeitungstexte wurde mit Fehlern in der Rechtschreibung aus den Originalen von 1922 übernommen. Die Originale befinden sich in der Zentral- und Landesbibliothek, Breite Straße 30, 10178 Berlin.

Absinth – die »Grüne Fee«

Geliebt – verboten – wiederentdeckt

Absinth, das Getränk der Bohème der Belle Epoque, wurde seit 1750 in der Schweiz hergestellt. Es war als Heilelexier gedacht, das aus mit Wermut versetztem Wein bestand. Seit der Antike gilt Wermut als Tausendsassa der Heilkunst, eingesetzt als Schlafmittel, Mittel gegen Magenbeschwerden, Rheuma, Seekrankheit und Gicht. Die Beigaben – Anis, Fenchel, Zitronenmelisse, Ysop und andere Kräuter verliehen dem Getränk eine grünliche oder bläuliche Farbe, was ihm den Namen »Grüne Fee« oder »La Bleue« eintrug. Mit 68 Prozent Alkohol war es alles andere als ein leichter Ermunterungstrunk.

Französisches Plakat um1800.

Den Siegeszug trat die Spirituose an, als der Franzose Henri-Louis Pernod 1805 eine große Destillerie in Pontarlier gründete und seinen Absinth den französischen Militärärzten schmackhaft machte, die ihn ihren Soldaten in das oft verunreinigte Trinkwasser mischten, um Krankheitserreger unschädlich zu machen.
Aus den Kolonien zurückgekehrt, machten die Soldaten das Getränk in ganz Frankreich bekannt. Weil der Kräuterbitter zudem weitaus günstiger war als Wein, änderten sich die Trinkgewohnheiten. Arbeiter tranken ihn nach Feierabend genauso wie die wohlsituierten Bürger, die damit ihre abendlichen Vergnügen begannen. Absinth war gleichzeitig die erste hochprozentige Spirituose, die Frauen, die nicht zur Halbwelt gehörten, in der Öffentlichkeit konsumieren konnten. 1860 war er aus den französischen Bars nicht mehr wegzudenken.
In den heruntergekommenen Spelunken wurde dem gemeinen Volk aber auch gern minderwertiger Industriealkohol ausgeschenkt, der mit Wermut versetzt den Gästen als Absinth aufgetischt wurde.
Das Ende kam zwischen 1907 und 1923 in fast ganz Europa. Sittenverfall und zu viele angebliche Absinth-­Abhängige sorgten für negative Stimmung. Das im Wermut enthaltene ätherische Öl Thujon wurde für die schädlichen Auswirkungen wie Schwindel, Halluzinationen, geistigen und körperlichen Verfall verantwortlich gemacht.
Heute ist belegt, dass die im Absinth enthaltene Menge dafür nicht hoch genug ist und die vielen Schädigungen eher auf den Konsum von zu viel und zu schlechtem Alkohol zurückzuführen sind.
Etwa 80 Jahre nach dem Verbot wurde Absinth in der EU – reglementiert – wieder zugelassen. Es gibt ihn heute in den unterschiedlichsten Qualitäten, Farben und Alkoholkonzentrationen.

mr