Neuköllner Alltägliches

Nachrichten aus dem »Neuköllner Tageblatt« vor 100 Jahren, bearbeitet von M. Rempe

Nr. 27 – Freitag,  1. Februar 1918
Die Ausstandsbewegung. Der verbotene Arbeiterrat. Das Oberkommando in den Marken erläßt folgende Bekanntmachung: »Aus den Meldungen über den Verlauf der gegenwärtigen Streikbewegung in Großberlin habe ich ersehen, daß sich ein Ausschuß der Ausständigen unter dem Namen »Arbeiterrat« gebildet hat, um die einheitliche Leitung des Streiks in die Hand zu nehmen. Die Ausstandsbewegung, die unter Mißachtung gesetzlicher Bestimmungen ins Leben getreten ist, gefährdet die öffentliche Sicherheit. Auf Grund des § 9b des Gesetzes über den Belagerungszustand löse ich hiermit den genannten Ausschuß auf und verbiete ihm jedes weitere Zusammentreten. Gleichzeitig verbiete ich jede Bildung irgend einer neuen Vereinigung zur Leitung der gegenwärtigen Streikbewegung. Der Oberbefehlhaber in den Marken, von Kessel, Generaloberst.«

Nr. 29 – Sonntag, 3. Februar 1918
Kein »Rübenbier«! Der preußische Finanzminister hat eine Verfügung erlassen, wonach die Verwendung von Rüben zur Herstellung bierähnlicher Getränke verboten ist. Von verschiedenen Brauereien war die Genehmigung zur Herstellung eine Bierersatzgetränkes erbeten worden, daß aus Runkelrüben, Hopfen, Hefe und Wasser nach einem patentierten Verfahren bereitet werden sollte.

Nr. 39 – Mittwoch, 13. Februar 1918
Der Kampf um den Hering. Seit Montag werden in den beiden städtischen Fischhallen und in einer Anzahl fischhandlungen Heringe verkauft, und zwar auf Abschnitt 92 der Warenbezugskarte. Jeder Einwohner von Neukölln erhält somit einen Hering, und um unnötige Ansammlungen zu verhüten hatte der Magistrat ganz besonders darauf hingewiesen, daß jedermann sicher sein könne, seinen Hering zu erhalten, ein Anstellen mithin nicht nötig sei. Am Montag morgen aber standen trotzdem lange vor Eröffnung der Geschäfte Hunderte und Aberhunderte Frauen im strömenden Regen vor den Fischläden und belagerten dieselben bis zum Abend. Die meisten Geschäfte hatten schon mittags ausverkauft. Am Dienstag wiederholte sich dieser Kampf um den Hering aufs neue. Auf unser Befragen, weshalb sie durch stundenlanges Anstehen ihre Gesundheit leichtfertig aufs Spiel setzten nud außerdem so viel Zeit versäumten, erklärten viele Frauen, sie fürchteten, andernfalls den ihnen zustehenden Hering nicht zu bekommen. Schon oft habe der Magistrat bekannt gemacht, es sei genug Ware vorhanden und schließlich hätten doch Tausende von Einwohnern das Nachsehen gehabt und seien leer ausgegangen. Der beste Beweis, daß es auch mit den Heringen »einen Haken« habe, sei doch die Tatsache, daß es in den meisten der am Verkauf beteiligten Geschäfte schon heute keine Heringe mehr gebe, obwohl der Verkauf doch erst begonnen habe. – Unerklärlich ist es allerdings, daß die Geschäfte so gering beliefert worden sind; vielleicht gibt der Magistrat im Interesse des Publikums eine Aufklärung.

Nr. 48 – Sonnabend, 23. Februar 1918
Einen üblen Ersatz für die beliebte Würze der Kümmelkörner glaubt man der jetzt ohnehin schon von allen Seiten übervorteilten Hausfrau bieten zu können. Der findige Großhändler bringt in geschlossenen Tüten, so daß man gewissermaßen die Katze im Sack kaufen muß, von nur wenigen Gramm Gewicht, auf denen ausdrücklich das Wort »Kümmel« als Inhalt vermerkt ist, für den hohen Preis von 15 Pfg – Fenchelkörner in den Handel. Die Hausfrau sei vor diesen blau und gelb gewürfelten Tüten mit der irreführenden Aufschrift »Kümmel« gewarnt, da deren Inhalt geeignet ist, ein ganzes Mittagessen zu verdecken.

Die Transkription des Zeitungstextes wurde mit Fehlern in der Rechtschreibung aus dem Original von 1918 übernommen. Das Original befindet sich in der Helene-Nathan-Bibliothek.

Streiken gegen den Krieg

Der Januaraufstand der deutschen Arbeiter

Bereits im Jahr 1915 gab es in Deutschland erste Lebensmittelunruhen vor Geschäften und bei öffentlichen Lebensmittelausgaben. In den Folgejahren steigerte die immer schärfere Rationierung der Nahrungs­mittel und Wucherpreise auf dem Schwarzmarkt die katastrophale Unterernährung weiter Teile der Bevölkerung. Die Bereitschaft, Hunger, Entbehrungen und staatliche Repressionen in Kauf zu nehmen, sank entsprechend der nachlassenden Kriegsbegeisterung durch das Ausbleiben militärischer Erfolge im Laufe der Kriegsjahre rapide.
Im März 1917 erhielt die Antikriegsstimmung durch den Beginn der Russischen Revolution weiteren Auftrieb. Daran knüpften sich Hoffnungen auf das Ende des Krieges und eine Verbesserung der eigenen elenden Lebensbedingungen.

Plakat des Spartakusbundes, 1919.

Am 28. Januar 1918 riefen Spartakusbund und ihm nahestehende Metallarbeiter zum Streik auf, dem sich im ganzen Deutschen Reich rund eine Million Menschen anschloss. In Berlin legten ungefähr 400.000 Werktätige die Arbeit nieder und zogen mit der Forderung »Für Frieden und Brot« durch die Stadt.
Die Delegierten der bestreikten Betriebe wählten, dem russischen Beispiel folgend, einen »Arbeiterrat«, der sofort mit einem Aufruf an die Öffentlichkeit trat. Verlangt wurde ein Frieden ohne Annexionen auf der Grundlage des Selbstbestimmungsrechts der Völker, die Verbesserung der Lebensmittelversorgung, die Freilassung politischer Gefangener, die Demokratisierung der Staatseinrichtungen und allgemeines, gleiches, direktes Wahlrecht für Männer und Frauen ab 20 Jahren.
In den folgenden Tagen kam es zu blutigen Zusammenstößen mit der Polizei in Moabit, Charlottenburg und am Alexanderplatz. Mehrere Arbeiter wurden getötet, viele verletzt. Am zweiten Streiktag legten bereits mehr als eine halbe Million die Arbeit nieder.
Der Kommandierende General in Berlin und der Mark Brandenburg, Eugen von Kessel, verhängte daher den verschärften Belagerungszustand über Berlin. Ab dem 2. Februar wurden außerordentliche Kriegsgerichte eingerichtet. Der »Vorwärts« wurde verboten, alle Sitzungen und Versammlungen der Streikenden von der Polizei gesprengt. Die Arbeiter erhielten den Befehl, bis zum 4. Februar die Arbeit wieder aufzunehmen, widrigenfalls drohten ihnen Strafen nach den Bestimmungen des Belagerungszustandes, darunter den Wehrpflichtigen die militärische Einziehung in den Krieg.
Das harte Vorgehen zeigte Wirkung: Im Laufe des 2. und 3. Februar 1918 wurde in fast allen Betrieben die Arbeit wieder aufgenommen.
Dennoch zeigte sich hier, wie brüchig die Fundamente des wilhelminischen Herrschaftssys­tems inzwischen waren.

mr