Nachrichten aus dem »Neuköllner Tageblatt« vor 100 Jahren, bearbeitet von M. Rempe
Nr. 3 – Freitag, 4. Januar 1918
Sammelt Altpapier! Die Papiernot verschärft sich mehr und mehr. Zum Teil ist sie dadurch verursacht, daß Stoffe zur Papierherstellung, die uns früher aus dem Auslande zugegangen sind, nicht mehr im früheren Maße geliefert werden. Zum Teil aber auch wird Papier jetzt vielfach zu Zwecken verbraucht, für die früher anderes Material zur Verfügung stand. Säcke und Scheuertücher, Anzüge und Textilwaren, insbesondere aber auch unsere Heeresverwaltung benötigt in steigendem Maße Papier. Unter diesen Umständen ist es die dringendste Pflicht eines jeden, alles Altpapier, möge es im Haushalt oder im Geschäft abfallen, möglichst bald der Wiederverwendung zuzuführen. Ganz besonders ist aber davor zu warnen, Altpapier, wie eine »praktische Hausfrau« vor einiger Zeit empfahl, zu Briketts zu formen und zu verbrennen. Die Heizkraft des Papiers ist nur gering, der kostbare Rohstoff geht aber dabei verloren. Die hiesige Kriegsbrockensammlung (…) ist dankbar für jede Zuwendung von Altpapier und gibt dafür wertvolle Gutscheine aus, die wiederum (…) gegen Lebensmittel, Wirtschaftsgegnstände, Porzellan, Schulutensilien, Bücher usw. eingetauscht werden. Es ergeht daher die Bitte an alle Neuköllner Einwohner, alles was an Papier entbehrt werden kann, zur Sammelstelle zu bringen. (…) Durch die Sammlung aller Papiervorräte wird unserem wirtschaftlichen Durchhalten ein sehr großer Dienst erwiesen.
Nr. 5 – Sonntag, 6. Januar 1918
Das ungebührliche Benehmen Jugendlicher auf der Eisenbahn hat zu Klagen Anlaß gegeben. Die Aufsichtsbeamten der Eisenbahn sind angewiesen worden, die Feststellung des Namens und der Schule von Schülern und Schülerinnen, deren Betragen zu Klagen Anlaß gab, anzuordnen. Jugendlichen, die nicht mehr schulpflichtig sind, wird das ungebührliche Betragen von den Aufsichtsbeamten zunächst untersagt. Leisten sie dieser Aufforderung nicht Folge, so soll Anzeige wegen Uebertretung der Bahnpolizeiverordnung erstattet werden.
Nr. 15 – Freitag, 18. Januar 1918
Massenandrang auf der Untergrundbahn. Infolge Versagens des Straßenbahnverkehrs fand gestern ein unbeschreiblicher Ansturm auf die Untergrundbahn statt. Die meist aus aushilfsweise tätigen Frauen bestehenden Beamten waren der mit elementarer Macht vorwärtsstürmenden Menge gegenüber vollständig machtlos. Der Frühverkehr in der achten und neunten Stunde war so gewaltig, daß die Bahnhöfe vorübergehend geschlossen werden mußten, weil es nicht möglich war, auch nur einen Teil der auf den Bahnsteigen wartenden Fahrgäste zu befördern. Infolgedessen kam es zu wüsten Szenen. Die im Zuge befindlichen Fahrgäste konnten nicht aussteigen, da die draußen Harrenden mit Gewalt einzusteigen versuchten. Die Direktion der Untergrundbahn ist zwar bemüht, durch umfassende Maßnahmen für möglichst glatte Abwicklung des Verkehrs zu sorgen; es ist ihr auch gelungen, im Einvernehmen mit der Elektrizitätswirtschaftsstelle eine geringe Verstärkung der Zugfolge zu ermöglichen; sie ist aber andererseits in ihrem Kohlenverbrauch beschränkt. Seit Bestehen der Hochbahn sind in diesen Tagen die höchsten Verkehrsziffern erreicht worden. Am Montag wurden 550 000 Personen, am Dienstag 466 000 und am Mittwoch 543 000 Personen befördert. Diese Zahlen dürften gestern noch überschritten worden sein.
Nr. 15 – Freitag, 18. Januar 1918
Erblindung nach Genuß von Likörersatz. In der letzten Sitzung der Berliner Medizinischen Gesellschaft stellte Dr. C. Hamburger einen fünfzigjährigen Mann vor, der am Weihnachtstage einen von einem nicht ermittelten Händler bezogenen »Likörersatz« getrunken hat und infolge davon auf beiden Augen völlig erblindet ist. Zweifellos handelt es sich, wie seinerzeit bei den Erblindungen im Asyl für Obdachlose, um die Wirkung des Methylalkohols in dem Likörersatz. Der traurige Fall diene jedermann zur Warnung vor dem Genuß zweifelhafter Spirituosen.
Die Transkription des Zeitungstextes wurde mit Fehlern in der Rechtschreibung aus dem Original von 1918 übernommen. Das Original befindet sich in der Helene-Nathan-Bibliothek.
Hosen aus Papier
Der Krieg zwingt die Textilindustrie zur Ersatzstoffwirtschaft
Im Ersten Weltkrieg wurde mit großem Propagandaerfolg für die Sammlung von »Rohstoffreserven« geworben. Unter dem Motto »Gold gab ich für Eisen« wurde auf zunächst freiwilliger Basis Edelmetall gesammelt. Noch zu Anbruch des letzten Kriegsjahres, am Neujahrstag 1918, wurde die deutsche Zivilbevölkerung aufgerufen, Metalle und andere Werte zu spenden.
Aber auch das Papierrecycling erlebte seinen ersten wahren Boom. Jährlich verarbeiteten die Papierfabriken tausende Tonnen von Zeitungen, Büchern und Dokumenten zu neuem Papier oder zu Papiergarnen.
Bis zum Kriegsbeginn verarbeitete die Textilindustrie nahezu ausschließlich importierte Rohbaumwolle. Als mit dem Kriegseintritt Italiens 1915 auch diese Importe zum Erliegen kamen, musste die Textilindustrie auf Ersatzstoffe umsteigen. Neben Flachs, Hanf und Brennnesselfasern waren das Papiergarne, die als vergleichsweise reißfest galten. Aus ihnen wurden daher nicht nur Hosen und Oberbekleidung hergestellt, sondern auch Schuhsohlen. Die Kundschaft bevorzugte aber die unbequemeren Holzsohlen, da sie bei Regen und Schnee zumindest nicht aufweichten. Um die Bekleidung notdürftig zusammenhalten zu können, standen zwar Nähkurse hoch im Kurs, aber je länger der Krieg dauerte, desto mehr bot die Bevölkerung ein äußerlich zerlumptes Erscheinungsbild. So gab es 1918 in Deutschland wohl kaum einen Zivilisten, der noch eine ungeflickte Baumwollhose besaß.
mr