Neuköllner Alltägliches

Nachrichten aus Neuköllner Zeitungen vor 100 Jahren, bearbeitet von M. Rempe

Neuköllnische Zeitung – Montag, 1. 11. 1920
Keine Einfuhrgenehmigung für Bananen. Auf Veranlassung des Reichsfinanzministeriums ist die kostspielige Bananeneinfuhr unterbunden worden. Einfuhrgenehmigungen werden nicht mehr erteilt. Die Ausfuhr von deutschem Frischobst wird mit Rücksicht auf den starken inländischen Bedarf nicht mehr gestattet.

Neuköllner Tageblatt – Sonnabend, 6. 11.1920
Cat=Step (Katzenschritt) der neue Modetanz. Die Tage des Fox=Trott und Jaß sind gezählt, wenn wir der Vorhersage der amerikanischen Tanzmeister glauben wollen. Den »Cat=Step« (Katzenschritt) hat man mit allgemeinem Jubel in Newport aus der Taufe gehoben. Das Publikum spricht: »Doch endlich ein Tanz, welchen wir mittanzen können. Leider war die Allgemeinheit bei allen anderen modernen exzentrischenTänzen, wie Jaß, Fandango, Tipsy=Step usw. nur auf das Zusehen angewiesen. Mit Feuereifer nimmt man daher auch in Deutschland diese Tanzneuheit auf. In Berlin wurde diese neue amerikanische Modeerscheinung von dem bekannten Tänzer der Staatsoper Willy Meisel mit kolossalem Erfolge im Metropol=Variete und Cabarett Eulenspiegel im Monat Oktober vorgeführt. Zu einer kräftigen und würdigen Polonaisen= Musik getanzt ist dieser »Cat=Step« in moralischer sowie auch in künstlerischer Hinsicht völlig einwandfrei, und man prophezeit ihm daher einen vollständigen Sieg über alle Nebenbuhler der der nächsten Saison.

Neuköllnische Zeitung, Dienstag – 16. 11. 1920
Durch den Kofferladen in die Nachtbar. Immer neue Wege finden die Veranstalter von Nachtbetrieben, um ihre Räume den Gästen zugänglich zu machen. So wurde von Beamten der Abteilung W in der letzten Nacht in der Marburger Straße 14 wieder ein Betrieb geschlossen. Durch einen angrenzenden Kofferladen, der nachts nicht verschlossen wurde, fanden Eingeweihte den Zugang zu Privaträumen im Hofe, in denen bei Tanz und Spiel der Sekt in Strömen floß; der Preis der Flasche betrug 300 Mark. Wie gewinnbringend diese Betriebe sind, läßt sich daran ermessen, daß der Unternehmer an jeder Flasche Sekt nahezu 200 Mark verdient. Der Betrieb wurde geschlossen, ebenso drei andere, die die Beamten im Westen noch entdeckten.

Neuköllner Tageblatt – Dienstag, 16. 11. 1920
Schlecht belohnte Ehrlichkeit. Neulich abends fand eine arme Frau B. aus der Thomasstraße in der Schudomastraße ein Paket mit Plättwäsche. Andere Leute hatten gesehen, wie kurz zuvor eine nach der Niemetzstraße zu gehende Frau das betr. Paket im Besitz gehabt, dasselbe also verloren haben mußte. Frau W. eilte der Verliererin nach und holte dieselbe auch schließlich in der Niemetzstraße ein, gerade als die Frau ihren Verlust bemerkt hatte. Frau W. bat für ihre Zeitversäumnis um 50 Pfg., die Verliererin aber drohte mit der Polizei, wenn Frau W. ihr nicht sofort das Paket ohne jede Entschädigung verabfolge, was Frau W. schließlich auch tat. Bei solcher Behandlung ehrlicher Finder darf man sich nicht wundern, daß häufig Fundsachen nicht abgegeben werden.

Neuköllner Tageblatt – Freitag, 19. 11. 1920
Das Hakenkreuz in der Schule verboten. Das preußische Kultusministerium hat folgende, von Haenisch gezeichnete Rundverfügung erlassen: »Von einer großen Anzahl Schüler wird heute das Hakenkreuz als Abzeichen getragen. Leider mußte in vielen Fällen festgestellt werden, daß durch das Tragen des Hakenkreuzes das gute Einvernehmen zwischen den Schülern erheblich gestört wurde. Ich bestimme daher: Auch das Hakenkreuz ist als Abzeichen im Sinne der Ziffer 3 des Runderlasses vom 14. November 1919 anzusehen, d.h. sein Tragen in der Schule ist verboten.

Neuköllner Tageblatt – Samstag, 27. 11. 1920
In großer Zahl strömen noch immer Arbeitslose aus allen Teilen des Reiches nach Berlin, in der Erwartung, hier Arbeit zu finden. Vielfach sind sie hierzu durch Mitteilungen von Berliner Bekannten veranlaßt, die ihnen Arbeit in diesem Betriebe oder jenem in Aussicht stellen. Auf Befragen erklären sie meist, von der großen Arbeitslosigkeit in Berlin nichts gewußt zu haben. Die hier Eintreffenden befinden sich alsbald in größter Not, weil sie weder Arbeit, noch Wohnung, noch Erwerbslosenunterstützung erhalten können.

Die Transkription der Zeitungstexte wurde mit Fehlern in der Rechtschreibung aus den Originalen von 1920 übernommen. Die Originale befinden sich in der Zentral- und Landesbibliothek, Breite Straße 30, 10178 Berlin.

Zwischen Glanz und Elend

Die gar nicht so goldenen Zwanziger

Arbeitslose verzehren ihr bescheidenes Mittagsmahl, das sie sich aus der Volksküche geholt haben. Foto: historisch

Auf der einen Seite das frivole und exzentrische Treiben in den Kokain-Bars, den Nachtlokalen und Varietés, wo der Sekt in Strömen floss, auf der anderen Seite Verarmung, Arbeitslosigkeit und Hunger, politische Unruhen, Streiks, die aufkommende rechtsnationale Symbolik.
Längst nicht alle Berliner lebten im glänzenden Licht, wie es die Zwanziger vorgaukelten. In den Mietskasernen teilten sich Familien zu acht zwei feuchte Zimmer, in denen tagsüber noch ein Bett unter­vermietet wurde.
Kriegsversehrte prägten ebenso das Straßenbild wie unterernährte Kinder und Erwachsene. Tuberkulose und Rachitis forderten zahlreiche Opfer. Die Lebensmittelrationierung wurde nur allmählich abgebaut; Lebensmittelkarten blieben unentbehrlich für das tägliche Überleben. Der daraus resultierende erhebliche Mangel an Grundnahrungsmitteln förderte Hamsterfahrten, bei denen sämtliche Arten von Wertgegenständen gegen Kartoffeln, Eier, Mehl oder Zucker getauscht wurden. Viele Menschen waren auf Suppenküchen angewiesen. Nichts war hier golden.
Trotzdem zog es immer mehr Menschen vom Land in die Städte in der Hoffnung auf Arbeit und ein besseres Leben. Dadurch verschärfte sich die Wohnungsnot in den Städten. In Berlin fehlten 1925 rund 100.000 Wohnungen.

mr