Petras Tagebuch

Trotz alledem

Es ist keine Schande, wenn man sich so richtig beschissen fühlt. So geht es mir gerade. Jeden Tag müssen wir alle mit neuen Tatsachen umgehen. Unsere ganze Kontinuität, unterbrochen durch persönliche Aufreger, ist aus den Fugen geraten. Unternehmen geraten ins Schleudern. Der Bund öffnet seine Taschen und schüttet Gelder aus. Mal sehen, wer dann davon profitiert. Dem asiatischen Modell folgend verwenden wir Mundschutze, halten Distanz oder verlassen gar nicht mehr die Wohnung.
Manchmal habe ich den Eindruck, dass die Situation so hätte sein können, wenn eine Atombombe gefallen wäre. Die Sonne scheint, keiner fällt sofort zu Boden, es ist eine verhaltende Stimmung und wir sind alle von etwas Unsichtbarem bedroht.
Und dann sowas: Ich stehe auf dem Markt auf dem Kranoldplatz und beob­achte. Da bilden sich Schlangen von Menschen und das schlangenförmig, das Abstandsgebot einhaltend. Sie bilden sich aus zwei Richtungen und an einer Stelle kreuzen sie sich. Dort teilen sich die Pärchen in Gemüse- und Käsestand. Ziemlich schlau, dachte ich mir, denn so konnten sie wahrscheinlich 45 Minuten über alles was wichtig ist reden, die Einkaufszettel abstimmen und mussten dann nur noch vielleicht 15 Minuten auf den gewünschten Stand warten. Für die Standverkäufer hat dieses Verhalten auch einen Vorteil: Die Kunden wissen, was sie wollen, sind gut gelaunt, weil das Wetter passt und sie nicht so lange alleine warten müssen. Das beschleunigt das Verkaufen und fördert die gute Laune.
Eine Standverkäuferin, die nicht so viel zu tun hat, lässt ihr waches Auge über den Markt schweifen. Manchmal läuft sie über den Markt und ermahnt Abstandssünder. Es sind jedoch wenige.
Alle genießen diese gute Stimmung, die außerhalb der eigenen vier Wände wie eine Oase vor dem Druck der Medien ist. Hier auf diesem Markt, der »DICKEN LINDA«, ist die Welt in Ordnung.
Jeder fragt nach, wie es dem anderen geht. Hilfsangebote werden ausgesprochen, konkrete Unterstützung wird geleistet, völlig unbürokratisch und direkt. Das habe ich in der Masse noch nie erlebt.
So erlebe ich es auch auf der Straße: Es reicht schon, den Menschen zuzulächeln, die Antwort ist immer eine lächlende Dankbarkeit.
Ich habe den Eindruck, dass wir in Neukölln gerade ganz eng zusammenrücken, jeder besorgt um den anderen und sich selbst. Wir schränken Sozialkontakte ein und lernen, mit den sozialen Medien umzugehen. So können wir noch immer zusammen sein, miteinander reden und uns auch sehen, naja wenn wir das technisch auch so hinbekommen. Da üben wir noch.
Ich habe noch eine kleine Bitte an alle: Bisher lief die Abstandshaltung recht gut. Behaltet die Nerven, denn wir alle müssen noch eine ganze Weile mit den Einschränkungen leben. Respektiert die Polizei, denn sie leistet gerade einen Dienst, der für die notwendige Disziplin sorgt. Das macht sie sehr freundlich, sie ist den Menschen sehr nahe und zeigt sich respektvoll und richtig anständig.