Gesundheitsstadtrat informiert über die  aktuelle Situation in Neukölln

Interview mit Falko Liecke

Foto: Bezirksamt Neukölln von Berlin

KuK: An wen können sich Neuköllner wenden, wenn sie befürchten infiziert zu sein?
Liecke: Das für die bundesweite Infektionsüberwachung zuständige Robert-Koch-Institut (RKI) hat klare Kriterien definiert, wann ein Test auf das sogenannte Coronavirus (SARS-CoV-2) erforderlich ist. Erstens muss ein enger Kontakt zu einer positiv getesteten Person bestanden haben. Enger Kontakt bedeutet, mindestens 15 Minuten in unmittelbarer Entfernung, also unter 1,5 Metern. In diesen 15 Minuten muss es durch ein Gespräch oder Husten und Niesen auch zu einer möglichen Übertragung von Tröpfchen gekommen sein. Ansonsten erreicht das Virus keine ansteckende Konzentration beim Empfänger. Einfach nur in der U-Bahn neben jemanden gesessen zu haben, macht eine Infektion also sehr unwahrscheinlich, soweit derjenige nicht hustend oder niesend unterwegs war. Statt eines unmittelbaren Kontaktes kommt auch ein Aufenthalt in offiziellen Risikogebieten für eine Indikation zum Testen in Frage. Das spielt aber gerade hier in Berlin zunehmend keine Rolle mehr.
Zweites Kriterium für einen Test sind typische Symptome wie Fieber, Husten und Schnupfen. Erst wenn beide Kriterien, also enger Kontakt und Symptome vorliegen, muss getestet werden. Neuköllnerinnen und Neuköllner, die beides bei sich erkennen, wenden sich bitte an meine Kolleginnen und Kollegen im Gesundheitsamt unter 030 90239 4040. Und sie bleiben bitte zunächst zu Hause, Krankschreibungen durch den Hausarzt sind aktuell auch telefonisch unkompliziert möglich. Kontaktpersonen von positiv getesteten Menschen werden außerdem von meinem Gesundheitsamt direkt informiert und unter Isolation gestellt. Getestet werden sie allerdings nur, wenn auch Symptome vorliegen.
Wer keinen direkten Kontakt mit einem sicher Infizierten hatte, aber dennoch Symptome wie Fieber, Husten und Schnupfen zeigt, wendet sich bitte an seinen Hausarzt. Wir dürfen nicht vergessen, dass es viele andere Erkältungskrankheiten gibt, die mehr oder weniger ernst sind. Nicht jeder Husten ist Corona, aber auch die saisonale Grippe ist gefährlich und muss behandelt werden.

KuK: Warum wird hier nicht mehr getestet, um die tatsachlich Infizierten und ihre Kontaktpersonen frühzeitig zu erkennen und zu isolieren, statt flächendeckende Ausgangssperren zu verhängen?
Liecke: Das hat mehrere Gründe. Der wichtigste ist, dass es in Berlin einfach nicht genug Testkapazitäten gibt. Derzeit können wir ca. 4.000 Tests auf SARS-CoV-2 pro Tag durchführen. Diese Kapazität ist weitgehend ausgereizt.
Es macht aber auch keinen Sinn, Menschen ohne konkrete Anhaltspunkte zu testen. Denn der Test heute sagt nichts über den Zustand morgen aus. Wer heute negativ getestet wird, kann morgen schon infiziert sein. Und schon jetzt haben wir 96% negative Tests, trotz der strengen Kriterien.
Ich plädiere trotzdem für stichprobenartige Tests in der Breite, um ein besseres Bild über die Verbreitung des Virus zu erhalten. Das RKI hat aktuell seine Empfehlungen für Tests angepasst, was ich sehr begrüße. Damit können wir breiter testen. Das geht aber erst, wenn die Testkapazitäten ausgebaut sind. Der Senat ist hier in der Pflicht, alles dafür zu tun.
Aus meiner Sicht kamen die Maßnahmen in Berlin zu zögerlich und zu spät. Die Ausgangssperre, die der Senat „Kontaktbeschränkung“ nennt aber eigentlich das gleich ist, wurde zu spät verordnet. Die Bezirke mussten den Senat in nächtelangen Telefonaten teilweise dazu drängen, überhaupt Maßnahmen zu erlassen. Durch schnellere und konsequenteres Handeln hätten wir die Verbreitung frühzeitig noch besser eindämmen können. Es ist diese diffuse Angst in weiten Teilen der Berliner Politik, Regeln vorzugeben und sie auch umzusetzen, die uns jetzt wirklich zu schaffen macht. Ich finde, es ist jetzt nicht die richtige Zeit, auf individuelle Lebensgefühle und Befindlichkeiten Rücksicht zu nehmen. Es geht um den Schutz von Menschenleben. In dieser Krise zeigt sich, wie wichtig politische Führung ist.

KuK: Ist die Versorgung der Kranken bei steigenden Infektionszahlen gewährleistet?
Liecke: In der Vergangenheit sah man sich oft Hohn und Spott ausgesetzt, wenn man es sagte: aber Deutschland hat eines der besten und leistungsfähigsten Gesundheitssysteme der Welt. Das liegt trotz aller struktureller Probleme und Fehlanreize im System vor allem an den vielen Menschen, für die Gesundheit kein Job, sondern eine Berufung ist. Ihnen gebührt nicht erst seit Corona unser Dank und endlich auch eine handfeste und finanzielle Anerkennung. Das gilt für Ärztinnen und Pfleger in den Kliniken aber auch für meine Kolleginnen und Kollegen im öffentlichen Gesundheitsdienst, der viel zu lange auch in Berlin kaputtgespart wurde. Ich warne seit Jahren davor, dass es im Ernstfall eng wird. Ich hätte mir gewünscht, dass meine Warnungen nicht Realität werden.
Trotz dieser Probleme haben wir in Neukölln, Berlin und Deutschland eine hohe Kapazität an intensivmedizinischer Betreuung. Derzeit ist nur ein Bruchteil der verfügbaren Intensivbetten belegt. Bei ungehinderter Verbreitung kommen wir aber auch schnell an die Grenzen. Wenn das passiert, sterben Menschen unbehandelt, die man eigentlich hätte retten können. Darum ist es wichtig, die Verbreitung des Virus und damit auch die gleichzeitig notwendige intensivmedizinische Betreuung so lange wie möglich hinaus zu zögern und zu strecken.
Die Antwort auf die Frage, ob die Versorgung aller Erkrankten gewährleistet ist, geben wir uns alle jeden Tag selbst. Nur wenn wir uns an die neuen Regeln halten – und zwar alle! – werden wir die Leben besonders bedrohter Menschen retten. Unsere Eltern und Großeltern, bereits vorher Erkrankte und pflegebedürftige Menschen sind auf unsere Hilfe, auf unsere Rücksicht angewiesen. Das müssen jetzt auch junge Menschen verstehen und befolgen, die sich keiner direkten Bedrohung für ihr Leben ausgesetzt sehen.

KuK: Wo können Menschen, die möglicherweise in Quarantäne müssen, oder solche, die beispielsweise nicht selber einkaufen können, Unterstützung finden?
Liecke: Meine Kolleginnen und Kollegen im Gesundheitsamt und aus anderen Abteilungen des Bezirksamtes telefonieren jeden Tag die unter Quarantäne stehenden Neuköllnerinnen und Neuköllner ab und fragen ganz gezielt nach, wie geholfen werden kann. Wir sind ständig dabei, dort Kapazitäten aufzubauen.
Ich habe viele Angebote von Gewerbetreibenden und Privaten bekommen, die Nahrungsmittel und Gegenstände des täglichen Bedarfs liefern wollen. Bisher mussten wir darauf nicht zurückgreifen. Bisher funktioniert es gut über Nachbarschaftshilfe, Bekannte, Freunde und Familie. Es klingt widersprüchlich, aber die Quarantäne lässt die Menschen zusammenrücken. Das ist gut so.
Gerade hat ein Neuköllner Traditionsunternehmen, das seit 1927 in Neukölln existiert und weltweit 1.400 Menschen beschäftigt, seinen gesamten Vorrat an OP-Schutzmasken für den Bezirk gespendet. Damit können wir den Kinderschutz aufrechterhalten und im Kontakt mit den Familien bleiben. Wir können damit die Tee- und Wärmestube für Wohnungslose und vor allem das Vivantes Klinikum in Neukölln unterstützen. Neukölln hält zusammen. Die Firma Kieback&Peter hat genau das in ganz toller Weise gezeigt. Ich bin sehr dankbar dafür.

KuK: Ist Ihr Amt personell für die jetzt anfallende Arbeit gerüstet?
Liecke: Ich warne seit über 10 Jahren davor, dass die Gesundheitsämter berlinweit schlecht ausgestattet sind. Es fehlen Ärztinnen und Ärzte, es fehlt medizinisches Fachpersonal und sie werden zu schlecht bezahlt. Erst seit Januar haben wir wieder einen Amtsarzt in Neukölln, den wir ohne unser langes Trommeln und Werben nicht bekommen hätten. Ich will mir nicht vorstellen, wie die Lage aktuell ohne ihn wäre.
Im Gesundheitsamt Neukölln arbeiten unglaublich qualifizierte und motivierte Expertinnen und Experten. Die machen gerade einen tollen Job und stellen persönliche Bedürfnisse hinten an. Sie sind im wahrsten Sinne des Wortes im Dienst für Neukölln. Sie stellen sicher, dass wir die Krise gut überstehen werden. Ich erwarte vom Senat, dass diese Arbeit auch gewürdigt wird.

KuK: Was tun Sie, um aufkommende Panik einzudämmen?
Liecke: Wir müssen reden, informieren und aufklären. Bisher sehe ich nicht, dass Panik aufkommt. Aber ich sehe immer wieder Falschmeldungen zum Virus. Handfeste Lügen, die ganz gezielt Stimmung machen, verunsichern und Panik schüren sollen.
Auf solche Versuche dürfen wir nicht hereinfallen. Der beste Rat ist derzeit Gelassenheit, Wachsamkeit und Vertrauen. Informationen sollen nur aus offiziellen Quellen ernst genommen werden. WhatsApp Gruppen sind gut, um Kontakt mit Freunden und Familie zu halten. Für seriöse Informationen sind sie in den allermeisten Fällen ungeeignet.
Auf meiner Facebookseite informiert beispielsweise unser Neuköllner Amtsarzt immer wieder in Videos über die aktuelle Lage. Er erklärt, wie Infektionsketten funktionieren und was das Gesundheitsamt unternimmt, um sie zu unterbrechen. Das sind wirklich vertrauenswürdige Informationen, auf die Verlass ist.

KuK: Was geschieht mit den Jugendlichen, die bisher in Jugendfreizeiteinrichtungen betreut wurden. Wie kann denen geholfen werden, die aufgrund der Ausgangssperre und dem damit verbundenen häuslichen Stress Opfer von Gewalt werden?
Liecke: Der Kinderschutz in Neukölln ist gewährleistet. Aber wir haben derzeit in der Tat ein Erkenntnisproblem. Denn die soziale Kontrolle ist unser Trumpf im Kinderschutz. Wenn sie wegfällt, weil sich das ganze Leben nur noch in der Wohnung abspielt, kann es in manchen Familien gefährlich werden. Darum ist mein Appell an alle Neuköllnerinnen und Neuköllner: schauen Sie hin. Rufen Sie lieber einmal zu oft unser Kinderschutzteam unter 030 90239 55555.
Das hat nichts mit Denunziation oder Spitzelei zu tun. Es ist Teil der Verantwortung, die wir alle miteinander für die Kinder in unserem Neukölln tragen.

KuK: Was möchten Sie den Neuköllnern gerne noch sagen?
Liecke: Die Situation ist ernst, aber nicht aussichtslos. Der Virus verlangt uns allen viel ab. Die Menschen in den Kliniken, den Arztpraxen, in der öffentlichen Verwaltung, Verkäufer und andere sind an der Leistungsgrenze oder schon darüber. Für viele andere ist es eine enorme psychische Belastung, zu Hause zu sitzen mit dem Gefühl, derzeit nichts beitragen zu können. Dabei ist gerade das zu Hause bleiben ein ganz großer Beitrag gegen das Virus. Ich danke jedem, der seine Rolle derzeit mit aller Kraft ausfüllt und die neuen Regeln beherzigt. Auch wenn es schmerzt.
Ich bitte Sie auch, Ihre Kinder immer wieder dafür zu sensibilisieren: zu Hause bleiben rettet Leben. Im Zweifel das der Oma und vieler tausend anderer besonders gefährdeter Menschen.
Die Zahlen zeigen erste Erfolge dieser enormen Einschränkungen unser aller Leben. Wir sind auf dem richtigen Weg. Wenn wir gemeinsam diese Herausforderung bestehen, wird unser Neukölln stärker sein als vorher.