Neuköllner Alltägliches

Nachrichten aus Neuköllner Zeitungen vor 100 Jahren, bearbeitet von M. Rempe

Neuköllner Tageblatt – Dienstag, 2. 3. 1920
Mord und Selbstmord. Gestern morgen 7.30 Uhr erschien in der Wohnung der Frau Holzapfel, Warthestraße 10, der 26jährige Eisenbahnarbeiter Fritz Henke aus der Bergstraße 64 und erklärte der öffnenden Frau H.,daß er ihren 31jährigen Sohn Willi sprechen wolle. Frau H. wollte den frühen Besucher nicht in die Wohnung hineinlassen, dieser stieß die Frau beiseite, ging in das Schlafzimmer des jungen Holzapfel, der noch im Bette lag, und feuerte auf diesen mehrere Revolverschüsse ab, die den jungen Mann lebend­gefährlich verletzten. Dann richtete Henke die Waffe gegen sich und schoß sich in den Kopf, so daß er tot zusammenbrach. Willi Holzapfel und Henke waren zusammen in der Eisenbahnwerkstatt Tempelhof beschäftigt und hatten sich dadurch kennengelernt. Beide haben in letzter Zeit in sträflichem Verkehr gestanden. Aus einem Briefe, den Henke an seine Mutter gerichtet hat, geht hervor, daß er die Tat schon seit längerer Zeit geplant hat. An dem Aufkommen des schwerverletzten Holzapfel wird gezweifelt.

Neuköllnische Zeitung – Dienstag, 2. 3. 1920
Eine Kindesleiche wurde gestern abend auf dem hiesigen St. Michael=Kirchhof aufgefunden. Dieselbe war in weißes Packpapier und Zeitungspapier eingewickelt und scheint über den Zaun geworfen zu sein.

Neuköllnische Zeitung – Freitag, 5. 3. 1920
Einsam gestorben. Der 52 Jahre alte Schriftsteller Fritz Oswald, der in der Schönstedtstraße 1 für sich allein hauste, wurde dort gestern tot aufgefunden, nachdem man ihn längere Zeit nicht mehr gesehen hatte. Nach dem Befunde ist er einem Blutsturz erlegen, wahrscheinlich schon vor mehreren Wochen. Die Leiche wurde beschlagnahmt und nach dem Schauhause gebracht.

Neuköllner Tageblatt – Donnerstag, 25. 3. 1920
Unter der Herrschaft Kapp=Lüttwitz. Am Sonnabend, den 13. März, durchritten Offiziere die Straßen Berlins und verlasen folgende »Kundmachung«: Die bisherige Reichsregierung hat aufgehört zu sein. Die gesamte Staatsgewalt ist auf den Generallandschaftsdirektor Kapp=Königsberg als Reichskanzler und preußischen Ministerpräsidenten übergegangen. Zum militärischen Oberbefehlshaber und Reichswehrminister ist gleichzeitig vom Reichskanzler der General der Infanterie Freiherr v. Lüttwitz berufen worden. Eine neue Regierung der Ordnung, der Freiheit und der Tat wird gebildet.

Neuköllnische Zeitung – Donnerstag, 25. 3. 1920
Wieder Ruhe in Groß=Berlin. Allmählich hören die wilden Schießereien und Tumulte in den Straßen Groß=Berlins auf. Der gestrige Tag verlief verhältnismäßig ruhig. Die Zeitungen waren wieder erschienen, und am Nachmittag tauchten auch die Straßenbahnen langsam wieder auf, beide ein untrügliches Symbol, daß die Verhältnisse wieder in ruhige Bahnen einlenken.

Neuköllnische Zeitung – Dienstag, 30. 3. 1920
Der Kampf gegen die Kokainseuche. Das Landespolizeiamt wendet sich mit einer Verfügung gegen die volksgefährliche Erscheinung des häufigen Kokaingenusses. Kokain darf lediglich im Kleinhandel in Apotheken abgegeben werden. Große Mengen dieses Mittels kommen von Westen her auf unerlaubte Weise ins Land. Das Landespolizeiamt empfiehlt daher eine strenge Ueberwachung der Drogerien und Schankwirtschaften; die Inhaber solcher Geschäfte sind für die Verfehlungen ihres Personals verantwortlich zu machen.


Die Transkription der Zeitungstexte wurde mit Fehlern in der Rechtschreibung aus den Originalen von 1920 übernommen. Die Originale befinden sich in der Zentral- und Landesbibliothek,
Breite Straße 30,
10178 Berlin.

Generalstreik gegen die Diktatur

Kapp-Lüttwitz-Putsch scheitert am entschlossenen Widerstand der Arbeiterschaft

Aufruf zum Generalstreik Foto: Deutsches historisches Museum


Im März 1920 verfügte die deutsche Regierung, die nach dem Ersten Weltkrieg entstandenen Freikorps aufzulösen, und kam damit einer Forderung des Versailler Vertrags nach.
Entschlossen, sich dem zu widersetzen, marschierten am 13. März 1920 Mitglieder des rechtsextremistischen Freikorps »Brigade Ehrhardt« mit schwarz-weiß-roten Fahnen und teilweise mit dem faschistischen Symbol des Hakenkreuzes am Stahlhelm in der Reichshauptstadt Berlin auf.
Unter Führung von Reichswehrgeneral Walther von Lüttwitz besetzten sie das Berliner Regierungsviertel und riefen den Reichstagsabgeordneten der Deutschnationalen Volkspartei Wolfgang Kapp zum Reichskanzler aus. Ihr Ziel: die Beseitigung der Regierung und Zerschlagung der Republik.
Da die Reichswehr nicht bereit war, gegen die Putschisten militärisch vorzugehen, floh die Mehrzahl der Minister mit Reichskanzler Gustav Bauer und dem Reichspräsidenten Friedrich Ebert nach Dresden und von dort nach Stuttgart.
Bereits am Vormittag des 13. März – unmittelbar nach Bekanntwerden der Vorgänge in Berlin – riefen die Gewerkschaften zum Generalstreik auf. Dem schlossen sich auch Angestellte, Teile der werktätigen Landbevölkerung sowie Beamte, Gewerbetreibende und andere demokratische Kräfte an. Eine breite Abwehrfront zur Verteidigung der Republik entstand.
Am 15. März war das ganze Land von der größten Streikbewegung seiner Geschichte erfasst. Etwa 12 Millionen Beschäftigte legten die Arbeit nieder. Fast überall stand die Produktion still und ruhte der Verkehr; nur lebenswichtige Betriebe und Einrichtungen arbeiteten. Entscheidend war jedoch, dass sich auch die Ministerialbürokratie weigerte, den Anordnungen Kapps Folge zu leisten.
Vergeblich versuchten die neuen Herren mit Demagogie, Lügenmeldungen und vor allem durch die Anwendung brutaler militärischer Gewalt, die Hunderte Tote und Verletzte forderte, ihre Position zu festigen.
Nach fünf Tagen Generalstreik gaben die Putschisten am 17. März 1920 auf.

mr