Neuköllner Alltägliches

Nachrichten aus dem »Neuköllner Tageblatt« vor 100 Jahren, bearbeitet von M. Rempe

Nr. 178 – Donnerstag, 7. August 1919
Verleihung der Bezeichnung »Frau« an Kriegerbräute. In mehreren deutschen Staaten ist durch Ministerialverfügungen die Möglichkeit geschaffen worden, Bräuten gefallener Kriegsteilnehmer auf Antrag die Bezeichnung »Frau« zu verleihen und ihnen die Annahme des Familiennamens des Verlobten zu gestatten. Voraussetzung hierfür ist, daß die ernstliche Absicht der Verheiratung bestand und die Eheschließung nur wegen des Todes des Verlobten unterblieben ist. Ebenso kann für ein aus dem Verlöbnis hervorgegangenes Kind die Genehmigung zur Führung des väterlichen Familiennamens beantragt werden. An der rechtlichen Stellung der Braut ändert sich durch die Verleihung der Bezeichnung »Frau« und die Führung des Namens des Verlobten nichts; die Braut erlangt hierdurch nicht die rechtliche Stellung einer Ehefrau und erwirbt weder einen Anspruch auf Witwengeld, noch ein gesetzliches Erb­recht gegenüber dem Verlobten. Auch dem Kinde steht mit der Verleihung des väterlichen Familiennamens ein Anspruch auf Waisenrente nicht zu: es kann nur wie jedes uneheliche Kind im Falle des Bedürfnisses eine widerrufliche Zuwendung aus Heeresmitteln erhalten. Auskunft über die Einzelheiten der Antragstellung erteilt die örtliche Fürsorgestelle.

Nr. 178 – Donnerstag, 7. August 1919
Eine gefesselte Wasserleiche wurde am Schiffbauerdamm 2 aus der Spree gelandet. Da der Fund auf einen Mord schließen ließ, wurde der Mordbereitschaftsdienst angerufen. Die Nachforschungen führten bald zur Feststellung des Toten und damit zur Aufklärung des Leichenfundes. Es liegt danach kein Mord, sondern Selbstmord vor. Der Tote ist der Arbeiter Adolf Heide aus der Landwehrstraße 10. Der Mann war schwer lungenkrank und konnte aus diesem Grunde keine ständige Arbeit finden. Seine Bemühungen, in eine Lungenheilstätte aufgenommen zu werden, führten auch nicht zum Ziel, und so wurde er schwermütig und beschloß, freiwillig aus dem Leben zu scheiden. Weil er ein guter Schwimmer war, glaubte er, daß er den Tod im Wasser nicht finden werde, wenn er sich ungefesselt hineinstürze. Er band sich daher die Füße und die Hände zusammen und ließ sich so in die Spree fallen.

Nr. 181 – Sonntag, 10. August 1919
Einführung der Einheitsschule in Neukölln. Vom 1. Oktober d. J. ab. Der Magistrat hat beschlossen, die untersten Michaelisklassen der Vorschulen vom 1. Oktober 1919 an abzuschaffen. Die Klassen sollen in Volksschulklassen umgewandelt werden. Falls keine genügende Anzahl von Anmeldungen für diese Klassen erfolgt, sollen aus anderen zu stark besetzten Volksschulklassen Schüler in diese eingeschult werden. Entsprechend wird am 1. April 1920 mit den Oberklassen verfahren werden. Die Neuregelung des Lehrplanes soll im Einvernehmen mit der Stadt Berlin erfolgen, wofür eine besondere Großberliner Lehrplankommission bereits eingesetzt ist. Als Lehrkräfte für die untersten (früher Vorschul=) jetzt Volksschulklassen kommen in erster Linie die an der Vorschule des Kaiser=Friedrich=Realgymnasiums bezw. den beiden Lyzeen beschäftigten Elementarlehrer und =Lehrerinnen in Betracht. So ist also die Vorschule nach den Beschlüssen der beiden städtischen Körperschaften in Neukölln aufgehoben und die Kinder treten in Zukunft in die Grundschule (Unterstufe der Einheitsschule) ein. Damit ist der erste Schritt dazu getan, daß für alle Tüchtigen freie Bahn geschaffen wird. Aber diesem ersten Schritt wird nun hoffentlich auch bald in Groß=Berlin der zweite und dritte folgen, die darin bestehen müssen, daß ein neuer, moderner Lehrplan für die Grundschule eingeführt wird, der die Realien stärker betont, und daß ferner die Grundschule nach dem Prinzip der Arbeitsschule aufgebaut wird. Nur durch eine Einrichtung, die stärker als bisher die Bildung durch Arbeit zur Arbeit betont und die unsere Schüler und Schülerinnen zu selbstdenkenden und selbständigen Staatsbürgern erzieht, kann den Forderungen der Neuzeit Genüge geleistet werden, denn wir brauchen dringend eine Durchorganisation des ganzen Volkes von unten bis oben.

Die Transkription des Zeitungstextes wurde mit Fehlern in der Rechtschreibung aus dem Original von 1919 übernommen. Das Original befindet sich in der Zentral- und Landesbibliothek, Breite Straße 30, 10178 Berlin.

 

Reformpädagogik in Neukölln

Die erste Gemeinschaftsschule entsteht

Die Kinder der »höheren Stände« im Kaiserreich sahen nie eine Volksschule von innen. Sie besuchten »Vorschulen«, die sie aufs Gymnasium vorbereiteten. Eingeschult wurde zu Ostern und im September zum Fest des heiligen Michael – die sogenannten Michaelisklassen.
Entgegen dem demokratischen Anspruch gleicher Bildungs- und Entfaltungsmöglichkeiten für alle hatten die Kinder aus diesen Schichten einen Vorteil in der weiteren höheren Bildung. In der Weimarer Republik wurden die Vorschulen deshalb abgeschafft. Der Magistrat von Neukölln berief am 30. Januar 1919 mit Artur Buchenau einen Mann zum Stadtschulrat, der zu den entschiedenen Schulreformern gehörte. Er forderte eine »Einheitsschule« mit vier Grundschuljahren für alle Kinder.

Plakette am Eingang des Ernst-Abbe-Gym­nasiums.           Foto: mr


Sein Nachfolger Kurt Löwenstein war einer der wichtigsten Unterstützer des Schulreformers Fritz Karsen, der seit 1921 Direktor des Kaiser-Friedrich-Realgymnasiums an der Sonnenallee, heute Ernst-Abbe-Gymnasium war. Die beiden Pädagogen verwandelten die Lehranstalt in eine Einheitsschule, in der Mädchen und Jungen bis zur neunten Klasse gemeinsam unterrichtet wurden, und schufen damit die erste Gesamtschule Deutschlands.
Außerdem gab es Kurse für Arbeiter, die ihr Abitur nachholen wollten – der zweite Bildungsweg war geboren. Dieser neuen Schulorganisation entsprach ein neuer Unterrichts- und Erziehungsstil, der sich schlecht mit dem monarchischen Namen vertrug. Ab 1931 trug das pädagogische Reformprojekt daher den Namen »Karl-Marx-Schule«.
Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten endete die Reformorientierung der Schule. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde sie zunächst als »4. Oberschule wissenschaftlichen Zweiges« geführt, bis sie dann 1956 ihren jetzigen Namen »Ernst Abbe-Gymnasium« erhielt.

mr