Neuköllner Alltägliches

Nachrichten aus dem »Neuköllner Tageblatt« vor 100 Jahren, bearbeitet von M. Rempe

Nr. 78 – Sonnabend, 5. April 1919
Eine Sehenswürdigkeit von Neukölln geworden sind nach ihrer völligen Umgestaltung die bisherigen »Passage=Festsäle«, Bergstraße 151=152, die sich jetzt im neuen Gewande als »Tanz=Paradies und Passage=Kaffee« präsentieren. Gewohnt, das Publikum durch glanzvolle Darbietungen auf jedem Gebiete zu überraschen, haben die Schauburg=Lichtspiele das Kaffee, vor allem aber auch die Saalräume, nach vollendet künstlerischen Entwürfen zu Stätten der gediegensten Vornehmheit und der wohltuendsten Intimität ausgestalten lassen. Es ist staunenswert, welche reiche Erfindungsgabe in dieser materialarmen Zeit die herangezogenen Künstler an den Tag gelegt haben, um ein kostbares, farbenfrohes, von glühenden Beleuchtungseffekten durchstrahltes Werk zu schaffen, daß jedem, der die Räume vorher kannte, als ein schnell hervorgezaubertes Märchenreich erscheinen muß. Damit ist für Neukölln eine entzückende Stätte für das gesellschaftliche Leben bereitet, die dem verwöhntesten Geschmack zu entsprechen vermag. Nicht nur für öffentliche Geselligkeiten, für Feste der Tanzkunst vornehmsten Gepräges, sind die Räume geschaffen, auch für Familienfeste, wie Hochzeiten, Jubiläen usw., sowie für das Vereins= und Klubleben stehen die Lokalitäten für zahlreiche Tage zur Verfügung. Von den neu ausgestatteten Kegelbahnen bis zu dem Luxussaale des Tanzpalastes steht nunmehr alles in neuem glanzvollen Gewande für den Empfang der Gäste bereit.

Nr. 88 – Donnerstag, 17. April 1919
Das Gesetz über die Betriebsräte fast fertiggestellt. Wie der »Vorwärts« hört, ist das Gesetz über die Betriebsräte so gut wie fertig gestellt., so daß es voraussichtlich nach den Osterferien bereits der Nationalversammlung vorgelegt werden kann. Auf diese Weise wird zunächst die Frage des Mitbestimmungsrechts gesetzlich geregelt werden.

Nr. 91 – Mittwoch, 23. April 1919
Berlin – Kopenhagen im Flugzeug. Eines der von der Sablatniggesellschaft in die Luftlinie Berlin-Warnemünde eingestellten Verkehrsflugzeuge hat unter Führung von Herrn Dr. Sablating am Montag mit Genehmigung der dänischen und deutschen Staatsbehörden den ersten Zivilverkehrsflug nach Kopenhagen ausgeführt. An Bord befand sich auch der Vertreter der skandinavischen Presse in Berlin, Herr Hansen. Trotz böigen Wetters ist das Flugzeug, das um 12 Uhr 45 in Warnemünde die Reise fortgesetzt hat, bereits um ½ 2 Uhr auf dem vorgeschriebenen Flugplatz in Kopenhagen glatt gelandet.

Nr. 96 – Dienstag, 29. April 1919
Familiendrama. Eine aufregende Szene ereignete sich am Sonntag nachmittag 2½ Uhr am Köllnischen Ufer. Den Elsensteg betrat eine Frau, welche ein Kind auf dem Arm trug und von einem Knaben begleitet war. Sie befand sich augenscheinlich in größter Aufregung. Plötzlich schleuderte die Frau, bevor die zahlreichen in der Nähe befindlichen Straßenpassanten sie daran hindern konnten, beide Kinder ins Wasser, wo dieselben alsbald versanken. Die Frau wollte nunmehr selber in den Kanal nachspringen, wurde jedoch von herbeieilenden Personen an ihrem Vorhaben gehindert und von einem Wächter zur Polizei gebracht. Die beiden in den Kanal geworfenen Kinder konnten nur noch als Leichen von Schiffern geborgen werden. Die Frau wurde als die 32jährige Tischler=Ehefrau Klara Lewerang aus Donau­str. 128 festgestellt, die ertrunkenen Kinder als ihr vierjähriger Sohn Albert und ihr neun Monat alter Sohn Erich. Der Grund zu der schrecklichen Tat der Mutter ist in ehelichen Zerwürfnissen zu erblicken. Albert war vorehelich geboren und bildete, obwohl der Vater ihn als ehelich anerkannt hatte, den dauernden Gegenstand des Zwistes zwischen den L.schen Eheleuten. Der Vater konnte ihn nicht leiden und soll ihn nach Aussagen der Mutter, die ihn stets in Schutz nahm, schlecht behandelt haben. Nach einem abermaligen heftigen Streit zwischen den Eheleuten wegen des Knaben am Sonnabend faßte die Mutter den Entschluß zu der unseligen Tat. Frau L. wurde wegen Mordes in Haft genommen.

Die Transkription des Zeitungstextes wurde mit Fehlern in der Rechtschreibung aus dem Original von 1919 übernommen. Das Original befindet sich in der Helene-Nathan-Bibliothek.

Vom Rixdorfer Gesellschaftshaus zur Neuköllner Oper

Die Neuköllner Passage im Wandel der Zeit

Schon in der Gründerzeit wurde auf dem Gelände der »Passage« gefeiert, getanzt und gekegelt. 1879 entstanden hier die »Hoffmann’schen Festsäle«, ein Ensemble aus Wohnhaus, Tanzsaal mit Restauration und Bühne, Kegelbahnen und offener Gartenhalle. Es fanden Bälle, Geflügelausstellungen, Schlachtefeste und Konzerte statt. Die Versammlungsstätte war auch Treffpunkt vieler Vereine.

Die Passage heute.                                                                                                                                               Foto: mr

1908 wurden die Gebäude von Kaufmann Paul Daedrich mit der Absicht abgerissen, ein »Gesellschaftshaus« zu errichten. Nach Plänen des Stadtbaurates Reinhold Kiehl entstanden bis 1910 zwei fünfgeschossige Flügelbauten, die eine öffentliche Ladenpassage mit Höfen einschließen, die eine »Passage« zwischen Karl-Marx-Straße und Richardstraße bilden. Die Seitenflügel wurden mit einem Brückenhaus verbunden. Die Vorderhäuser und Seitenflügel sind Wohnbauten mit Ladengeschäften im Erdgeschoss. Das Brückengebäude ist für gastronomische und kulturelle Nutzung konzipiert und mit großen repräsentativen Rundbogenfenstern ausgestattet.
Im nördlichen Erdgeschoss befand sich eine Gaststätte, in den oberen Etagen ein großer Ballsaal, ein Theater und ein Kino. Hier wurde 1910 dass »Excelsior Lichtspielhaus« eröffnet, das erste Kino Neuköllns. Gegenüber der Gaststätte lag das Kinofoyer im südlichen Erdgeschoss. Im Kellergeschoss gab es sechs Kegelbahnen. Das Kino wurde 1913 umgebaut und 1920 zum »Passage Lichtspieltheater« umbenannt.
Nachdem es Ende der 1960er Jahre der großen Kinokrise zum Opfer fiel und zum Möbellager degradiert wurde, wurde es 1985 von der Yorck-Gruppe zu neuem Leben erweckt.
Im alten Ballsal waren 1944 sogenannte russische »Zivilarbeiter« einquartiert. Nach langem Leerstand feiert hier seit 1987 die Neuköllner Oper ihrer Erfolge. Nur die Kegelbahnen gehören endgültig der Vergangenheit an.

mr