Neuköllner Alltägliches

Nachrichten aus dem »Neuköllner Tageblatt« vor 100 Jahren, bearbeitet von M. Rempe

Nr. 286 – Donnerstag, 5. Dezember 1918
Oeffentliche Meinung. Eine Bitte an Eltern und Lehrer. Der Fahnen= und Girlandenschmuck zu Ehren unserer heimkehrenden Krieger wird vielfach von der Jugend in rücksichtsloser Weise geplündert und beschädigt. Schule und Haus sollten der Jugend dies strengstens verbieten und sie auf die Bedeutung des Schmuckes hinweisen. Sch.,Weserstraße

Nr. 294 – Sonnabend, 14. Dezember 1918
Maßnahmen gegen die Arbeitslosigkeit. Das Reichsamt für Demobilisation hat eine Reihe von Maßnahmen eingeleitet, von denen eine Abnahme der großstädtischen Arbeitslosigkeit erwartet werden kann. Unter anderem wird die notwendige Herausziehung der Arbeiterinnen aus den Fabriken betrieben, damit an ihre Stelle die arbeitslosen männlichen Personen treten können. Die Arbeiterinnen sollen auf dem Lande und in den Kleinstädten untergebracht werden, ein Programm, dessen Durchführung großzügig in die Wege geleitet worden ist. Auch sonst sind Maßnahmen eingeleitet, um die Verteilung der in den Großstädten zusammengeballten Massen von Arbeitslosen aufs Land herbeizuführen.

Nr. 294 – Sonnabend, 14. Dezember 1918
Vorbereitung der Frauen für die Nationalversammlung. In ganz Deutschland regen sich allenthalben die Frauenvereine und die politischen Parteien zur Aufklärung und Gewinnung der Frauen. Es muß eine doppelte Arbeit geleistet werden; zunächst eine parteipolitisch neutrale, die sich bemüht, die Frauen zur parteipolitischen Arbeit vorzubereiten und fähig zu machen. Diese Aufklärung ist von den Frauenvereinen, Frauenstimmrechtsvereinen, Berufsorganisationen in die Hand genommen. Eine Zentrale dafür bildet der Ausschuß der Frauenverbände zur Vorbereitung der Nationalversammlung in Berlin, Barbarossastraße 65. Der Ausschuß gibt Flugblätter jeder Art heraus, die unter der verschiedensten Gesichtspunkten sich an die verschiedensten Kreise von Frauen wenden, um sie zur Wahlbeteiligung aufzurufen. Tatsächlich gibt es noch weite Frauenkreise, die bis jetzt zu gleichgültig oder zu zaghaft oder zu stark befangen in ihren früheren Anschauungen sind, um sich entscheiden zu können, Wählerinnen zu werden. Und es gibt viele Männer, die die Frauen ihres Kreises in dieser Anschauung unterstützen. Die so gesonnenen Frauen sind einer parteipolitischen Propaganda überhaupt nicht zugänglich; sie müssen erst ganz im allgemeinen an ihre neue Pflicht gewöhnt werden, haben auch den Wunsch, über die verschiedenen Parteien sich objektiv zu unterrichten. Sobald als möglich muß aber den Frauen die parteipolitische Entscheidung nahegelegt werden. Die Zeit ist zu kurz, als daß sie lange in Unentschlossenheit verharren sollten. Sie sollen ja auch nicht erst am 16. Februar wählen, sondern schon vorher die Arbeit der Partei mit tragen und stützen, der sie sich zuwenden. Darum wird mit jedem Tage die parteipolitische Werbearbeit unter den Frauen wichtiger, und die andere vorbereitende muß mehr und mehr zurücktreten. In den Parteien haben sich sowohl an der Zentrale wie örtlich meist besondere Aktionsausschüsse für die Aufklärung unter den Frauen gebildet.

Nr. 297 – Mittwoch, 18. Dezember 1918
Die deutschen Verluste im Weltkrieg. Ueber die deutschen Verluste bis zum 30. November 1918 werden jetzt vom »Vorwärts« die folgenden authentischen Zahlen mitgeteilt: 1 600 000 Tote, 203 000 Vermißte,   Gefangene, 4 064 000 Verwundete. Gesamtverlust: 6 490 000.

Nr. 295 – Sonntag, 15. Dezember 1918
Die Uebergriffe der Spartakusleute hat in den Kreisen der Neuköllner städtischen Arbeiter große Erbitterung hervorgerufen, die, wie wir bereits gestern mitteilten, in einer Entschließung an den Vollzugsrat Groß=Berlin ihren Ausdruck fand. Die Gemeindearbeiter – heißt es darin – verwahren sich entschieden dagegen, daß eine Minderheit der arbeitenden Bevölkerung Neuköllns sich das Recht anmaßt, als vollziehende Gewalt Beschlüsse zu fassen, die dem Willen der großen Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung nicht entsprechen. Die 2000 städtischen Arbeiter und Arbeiterinnen erwarten schleunigste Maßnahmen. Sollte ihren berechtigten Beschwerden nicht schnellstens Rechnung getragen werden, so werden die Arbeiter die Einstellung der Arbeit in allen städtischen Betrieben beschließen.

Die Transkription des Zeitungstextes wurde mit Fehlern in der Rechtschreibung aus dem Original von 1918 übernommen. Das Original befindet sich in der Helene-Nathan-Bibliothek.

Keine Macht den Räten

Der Reichskongress der Arbeiter- und Soldatenräte entscheidet sich für die parlamentarische Demokratie

Mit Fahnen, Girlanden und Blumenschmuck wurden die heimkehrenden Frontsoldaten begrüßt, die ab dem 2. Dezember 1918 in Berlin einmarschierten. Acht Millionen Soldaten, viele verletzt und verstümmelt, mussten in der Folgezeit wiedereingeglie­dert werden, während nach wie vor Chaos und Hunger das Leben der Menschen bestimmten.
Die Parteien stritten derweil weiter über die künftige Staatsform und Wirtschaftsordnung Deutschlands. Friedrich Ebert und die Mehrheit der MSPD-Anhänger traten für die Bildung eines modernen demokratischen Staatswesens bei grundsätzlicher Beibehaltung der bestehenden wirtschaftlichen und sozialen Strukturen ein. Sie wollten so bald wie möglich eine Nationalversammlung wählen, die über die Verfassung der neuen Republik entscheiden sollte.
Linke Gruppen, allen voran der Spartakusbund unter Führung Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts, die den Parlamentarismus grundsätzlich ablehnten, riefen unermüdlich zur Bildung einer sozialistischen Räte­republik auf.

Karl Liebknecht bei seiner letzten Rede am 4. Januar 1919 in der Siegesallee in Berlin.                                                                                                                                                          Foto: historisch

Auf dem Reichskongress der Arbeiter- und Soldatenräte Mitte Dezember 1918 traten die Delegierten mit überwältigender Mehrheit für die Wahl zur Nationalversammlung am 19. Januar 1919 ein. Danach verschärften sich die Auseinandersetzungen zwischen der Sozialdemokratie, die, um die Macht zu behaupten, immer stärker auf die alten Mächte angewiesen war – vor allem auf das Militär – und den radikalen Kräften, die politische Ziele nunmehr gewaltsam auf der Straße durchzusetzen versuchten.
In der Folge kam es zum Blutvergießen und zum Bruch zwischen USPD und MSPD. Am 31. Dezember spaltete sich der Spartakusbund von der USPD ab und gründete die KPD. Damit begann die politische Fragmentierung der Bewegung.

mr