Türkei im Protestfieber

Einfallsreiche Aktivisten verblüffen den türkischen Ministerpräsidenten

 

Es ist wie seinerzeit, als die Weltöffentlichkeit auf den Tahrir-Platz in Kairo schaute. Heute sind es der Istanbuler Gezi-Park und der benachbarte Taksim-Platz.
Der Gezi-Park ist nicht irgendein Park. Ursprünglich war hier ein armenischer Friedhof. 15 Jahre nach dem Völkermord an den Armeniern wurde der Friedhof 1930 völlig zerstört. Die Marmorgrabsteine wurden verkauft, einige wurden für den Bau der Fontäne und der Stufen des Parks verwendet.
Aus dem Widerstand von Umweltaktivisten, die Bäume im Gezi-Park retten wollten, weil dort ein Einkaufszentrum entstehen soll, entstand eine politische Bewegung gegen Ministerpräsident Racep Tayyip Erdoğan.
Seit zehn Jahren beschränkt Erdoğan die Bürgerrechte der Türken. So setzt er sich für die Wiedereinführung der Todesstrafe ein. Das seit 30 Jahren liberale Abtreibungsrecht hat er abgeschafft und bezeichnet Schwangerschaftsabbrüche als Mord. Alkoholkonsum, in der Türkei ohnehin eher unüblich, hat er überflüssigerweise   ab 22 Uhr verboten.
Nachdem der Ministerpräsident seinen Innenminister veranlasste, mit Polizeieinsätzen massiv gegen die Demonstranten vorzugehen, löste er eine Welle des Protests im ganzen Land aus. Bis heute wird in ungefähr 80 Städten demonstriert. Dank Facebook und Twitter vernetzen sich die Demonstranten und lassen sich immer wieder neue Aktivitäten einfallen. Mit dem stillen Prostest, bei dem die Demonstranten standen und schwiegen, konnte der Polizeieinsatz verhindert werden. Mit regelmäßigen Diskussionsveranstaltungen an  brisanten Orten schaffen sie Sensibilität für ihre politischen Anliegen.

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Unterstützung aus Neukölln für die Protestbewegung in der Türkei.

 

Besonders unglücklich erwies sich der Aufruf des türkischen Ministerpräsidenten an die Mütter, dass sie doch ihre Kinder von den Demonstrationen nach Hause holen mögen. Die Mütter packten die Picknickkörbe, gingen zu den Demonstrationen, suchten ihre Sprösslinge und blieben. Erdoğan  hätte wissen müssen, dass es gefährlich ist, sich mit Müttern anzulegen.
Es passt in das Gesamtbild, dass die türkische Presse falsche oder gar keine Informationen publiziert. Gegen die sozialen Netzwerke hat sie allerdings keine Handhabe, so dass die Weltöffentlichkeit sehr wohl einen realen Eindruck von den Geschehnissen bekommt.
Die Türkin Hülya Karci ist die Regisseurin der Neuköllner Theatergruppe »Sultaninen«. Sie besucht regelmäßig die Demonstrationen in Istanbul. Karci freut sich über den kreativen Widerstand und setzt den stillen Protest mit der Theatergruppe spontan auch in Berlin um.
Sie setzt große Hoffnungen in die Bewegung: »In meinem Land wird nichts so bleiben wie es ist«.  So sehen das offensichtlich auch etliche Abgeordnete des Berliner Senats. Auch sie besuchen die Demonstranten und unterstützen das Anliegen nach mehr Demokratie.