Zehn-Meter-Turm

Jeder Sprung eine kleine Geschichte

Keine Frage: der Sommer ist warm. Sehr warm. An manchen Tagen lässt es sich wirklich nur in der Nähe von Wasser einigermaßen aushalten. Aber aus Neukölln sind es locker 45 Minuten bis zum nächsten See. Nicht alle haben für so eine Reise Zeit und Lust, und Bus, Bahn oder Auto fahren ist bei so einem Wetter ja auch kein Spass.

Mutprobe Zehner.                                                                                                                                                  Foto: dt

Da bleibt nur der Gang ins Sommerbad Neukölln, das besser ist als sein Ruf. Viele Familien, viele Jugendliche, viel Security, und natürlich die Bademeister mit ihren legendären Ansagen: »Nicht vom Beckenrand springen«, »Unterwäsche unter den Badesachen tragen ist verboten«. Jedoch alles in Allem eine entspannte Atmosphäre. Wer sich trotzdem etwas Drama wünscht, sollte sich eine Weile an den Beckenrand vor dem Zehn-Meter-Turm setzen.
Der Sprung vom Zehner ist der Archetyp der Mutprobe. Schon vom Zuschauen von unten wird klar: Die Höhe, das undefiniert schimmernde Blau des Grundes, das Publikum – all das lässt höchstens Profis unberührt. Für alle anderen ist es eine echte Herausforderung.
Jeder Sprung eine kleine Geschichte. Der langsame Aufstieg die Treppe hoch, alleine auf dem Turm, vorbei am Drei-Meter-Brett (»kann jeder«), Fünf-Meter (»auch schon hoch«) bis zur Plattform auf zehn Metern Höhe. Der Blick über das Bad. Einmal kurz an die Kante gehen. Runterschauen. Wieder zurück. Und dann?
Verschiedene Herangehensweisen, so verschieden wie die Menschen da oben. Ob Teenager oder der Familienvater, der beweisen will, dass er es noch draufhat. Für alle gilt die alte Fliegerweisheit: »Runter müssen sie alle wieder«. Nur wie? Mit Fatalismus: Blick geradeaus, ein paar entschlossene Schritte, bis der Boden einfach aufhört. Mit Sicherheit: An die Kante stellen, Rücken durchdrücken, Arme vor der Brust kreuzen, Nase zuhalten, ein kleiner Schritt nach vorne. Mit Strategie: Auf die Kante setzen, sich abstoßen, so dass der Kopf immerhin schon mal einen Meter weniger Strecke zurücklegen muss. Mit Gewalt: Anlauf nehmen und schreien. Mit sozialem Druck: Die Clique unten feuert dich so lange an, bis du springst.
Am Beckenrand schauen immer ein paar Leute zu, aber wenn jemand länger zögert, baut sich eine Spannung auf, die in vielem dem Elfmeter-Schießen bei der WM ähnelt. Immer mehr schauen zu, angesteckt vom Interesse der anderen, jeder fragt sich, wie würde es mir gehen, und wie fühlt es sich an, wenn ich es nicht schaffe? Und dann, wenn nach einer gefühlten Ewigkeit der erlösende Sprung kommt, dann klatschen wirklich einige, aber gefühlt ist es der frenetische Applaus der Menge.
Und wenn sich jemand nicht traut? Den ganzen Turm wieder runter klettern muss? Dann ist das einer der Momente, wo einem der Mensch als unsicheres, verletzliches Individuum begegnet. Auch ein Teil von uns. Man fühlt sich solidarisch, und das ist auch schön.

dt