Petras Tagebuch

Freiheitsglocke

Eigentlich bin ich ein sehr pünktlicher Mensch. Es bereitet mir keine Probleme, Verabredungen einzuhalten oder rechtzeitig zur Arbeit zu erscheinen.
Es gibt jedoch eine Ausnahme, und das ist der Sonntag. An diesem Tag treffe ich häufig für 12 Uhr Verabredungen. Leider kann ich da nicht pünktlich sein, denn ich muss die Freiheitsglocke hören. Sie erklingt vor den 12-Uhr-Nachrichten im Deutschlandradio Kultur.
Die Glocke war 1950 ein Geschenk der US-Amerikaner an die Berliner. Initiator der Idee war der Militärgouverneur der USA in Deutschland, Lucius D. Clay, auch bekannt als Vater der Luftbrücke. Er und die Regierung der USA organisierten eine Spendenaktion, an der sich 16 Millionen US-Bürger beteiligten. Zu diesem Zweck wurde die 10.206 Kilogramm schwere Glocke auf die Reise durch die USA geschickt. Jeder, der sie sehen wollte, durfte sie bewundern.
Die Freiheitsglocke ist die Anerkennung für das Durchhaltevermögen der Bürger der Stadt während der Blockade und ein Versprechen an die Völker im Ostblock, dass auch sie eines Tages frei sein würden.
So höre ich mir jeden Sonntag den Klang der Freiheitsglocke an mit dem folgenden Text:
»Ich glaube an die Unantastbarkeit und an die Würde des einzelnen Menschen. Ich glaube, dass allen Menschen von Gott das gleiche Recht auf Freiheit gegeben wurde.
Ich schwöre, der Aggression und der Tyrannei Widerstand zu leisten, wo immer sie auf Erden auftreten werden.«
Für mich ist es dann immer wieder wie eine Tageslosung und eine Sensibilisierung dafür, dass wir Freiheit nicht geschenkt bekommen, sondern immer wieder für sie streiten müssen. Es ist ein Kompliment an die Demokratie und ein Appell an die Menschen, die Freiheit des anderen zu respektieren.
In der Zeit, in der wir leben, muss ich oft zusehen, wie die Freiheit mit Füßen getreten wird, wie Intoleranz und Missachtung herrschen und die Bedürfnisse der Allgemeinheit im besten Fall ignoriert werden, im schlimmeren Fall aber nur noch geprügelt wird. Und ich denke, dass der Sonntag ein guter Tag ist, sich für wenige Minuten mit dem Thema zu befassen.
Dafür komme ich gerne zu spät.