Neuköllner Alltägliches

Nachrichten aus dem »Neuköllner Tageblatt« vor 100 Jahren, bearbeitet von M. Rempe

Nr. 282 – Sonntag, 2. Dezember 1917
Weit über 3 Millionen Gefangene. Kürzlich wurde von deutscher amtlicher Seite bekannt gegeben, daß die Zahl der listenmäßig in deutschen Lagern geführten Kriegsgefangenen die Ziffer von 2 000 000 überschritten habe. Die Zusammenstellung unserer österreichisch=ungarischen Bundesgenossen vom 1. November ergibt, wie wir zuverlässig erfahren, für die österreichisch=ungarische Monarchie eine Gesamtziffer an Kriegsgefangenen von über 1 000 000 Köpfen. Auch ohne Hinzurechnung der in den deutschen Aufstellungen nicht mitgezählten, in der Etappe befindlichen Kriegsgefangen sowie der von den Bulgaren und Türken eingebrachten Kriegsgefangen ergibt das allein für Deutschland und Österreich=Ungarn eine Zahl von weit über 3 000 000 Mann. Erinnert man sich bei dieser Gelegenheit, daß vor wenigen Tagen Lord Curzon im englischen Oberhause voller Stolz verkündete, die Engländer hätten auf allen Kriegsschauplätzen im Ganzen bisher 159 000 Gefangene gemacht, so sieht auch der Blinde, wo in diesem Kriege die Sieger zu suchen und zu finden sind.

Nr. 284 – Dienstag, 4. Dezember 1917
Ein Schneesturm, vermischt mit Regen wütete am Sonntag mit seltener Heftigkeit und verursachte mannigfache Schäden an Schornsteinen, Dachgesimsen, Firmenschildern, Bäumen und Fernsprechleitungen. In zahlreichen Fällen mußte die Feuerwehr eingreifen. Der Sturm verhinderte, daß der Schnee liegen blieb.
Durch Sturm sind viele Fernsprechleitungen nach außerhalb gestört. Bis zur Beseitigung der Störungen wird der Fernsprechverkehr besonders nach dem Westen und Osten stark verzögert. Der Verkehr nach Hamburg und Bremen ist ganz unterbrochen.

Nr. 288 – Sonnabend, 8. Dezember 1917
Weitere Bierverdünnung in Aussicht. Der Zentralausschuß für Inlandsbierversorgung hat kürzlich beschlossen, den Brauereien zu empfehlen, sich die allgemeine Einführung eines Einfachbieres mit einem Stammwürzgehalt von nicht mehr als 2 Prozent angelegen sein zu lassen. Wie weit wir damit auf dem Wege der Bierverdünnung gelangt sind, geht daraus hervor, daß im Frieden die Normalbiere einen Stammwürzgehalt von etwa 10-12 Prozent zu haben pflegten Im Februar 1917 wurde dann der Mindestgehalt des Bieres auf 6 Prozent und für Einfachbier auf 5 Prozent oder weniger festgesetzt. Es erfolgten weitere Herabsetzungen, und zuletzt wurde für das Dünnbier eine Stammwürze von etwa 3 Prozent bestimmt. Hoffentlich wird nun jetzt wenigstens der Tiefpunkt erreicht sein.

Nr. 298 – Freitag, 21. Dezember 1917
Eine glänzende Fliegerleistung. Der Fliegerhauptmann Hans Hesse ist von Berlin auf dem Luftwege in Mossul eingetroffen. Er hat die Strecke von zehn Tagen Eisenbahnfahrt in 34 Luftstunden zurückgelegt. Mossul ist die Hauptstadt des gleichnamigen Sandschaks am Tigris, nicht allzuweit von Bagdad. Schon diese Angabe zeigt die außerordentliche Länge des Fluges, ganz abgesehen von den dabei zu überwindenden Schwierigkeiten, wie sie die Ueberfliegung der Gebirgsketten auf diesem weiten Wege mit sich bringen. Hess hat damit eine Rekordleistung vollbracht, wie sie vor diesem Kriege niemand für möglich gehalten hätte.

Nr. 301 – Dienstag, 25. Dezember 1917
Der Schneefall, der gestern vormittag unerwartet eintrat, hatte große Verkehrsstörungen im Gefolge. Die Pferde vermochten infolge der Glätte vielfach die Lastwagen nicht weiterzubringen, auch stürzten zahlreiche Pferde, so daß sich oft in den Hauptstraßen ganze Wagenburgen ansammelten und auch der Straßenbahn den Weg versperrten. Städtische Straßenreinigerkolonnen sorgten in der Berg=, Berliner und Hermannstraße dafür, daß der Schnee vom Fahrdamm beseitigt und der Verkehr damit wieder erleichtert wurde. – Erheblich schlimmer als in Neukölln waren die Verkehrsstörungen in Berlin.

Die Transkription des Zeitungstextes wurde mit Fehlern in der Rechtschreibung aus dem Original von 1917 übernommen. Das Original befindet sich in der Helene-Nathan-Bibliothek.

In der Hand des Feindes

Kriegsgefangenschaft als Massenschicksal

Zwischen 6,6 und acht Millionen Soldaten gerieten während des Ersten Weltkrieges in Gefangenschaft. Bei etwa 60 Millionen Soldaten entsprach dies mehr als zehn Prozent aller Mobilisierten.
Die größten »Gewahrsamsmächte« waren das Deutsche Reich, wo 2,5 Millionen Gefangene interniert waren, Rußland mit 2,4 Millionen Gefangenen und Österreich-Ungarn mit 1,9 Millionen. In französischer und britischer Gefangenschaft befanden sich bei Kriegsende 350.000 beziehungsweise 328.000 deutsche Soldaten.

»Schottländer und Senegalschützen« in deutscher Gefangenschaft während der Kämpfe bei Ypern in Flandern.                                                                                                          Foto: historische Postkarte

Die letzten von ihnen kehrten nach Ratifizierung des Versailler Vertrags im Januar 1920 aus alliierten Lagern in die Heimat zurück.
Auf Anordnung des Auswärtigen Amts wurde im Februar 1915 das sogenannte Halbmond-Lager in Zossen bei Wünsdorf eingerichtet. Dort wurden etwa 4.000 Kriegsgefangene überwiegend islamischen Glaubens aus den französischen und britischen Kolonien interniert, die zumindest teilweise nach ihren religiösen und heimatlichen Bräuchen leben durften. Mittels gezielter Propaganda wollten die Deutschen die Gefangenen gegen ihre Kolonialherren indoktrinieren und zu einem »Heiligen Krieg« aufstacheln.
Gefangene wurden vor allem ab 1916 zum Arbeitseinsatz in Industrie, Bergbau und Landwirtschaft gezwungen, um den durch Fronteinsatz entstandenen Mangel an Arbeitskräften auszugleichen. Harte körperliche Arbeit bei unzureichender Ernährung führte bei vielen Gefangenen, die nicht auf Zusatzlieferungen aus der Heimat zurückgreifen konnten, zu teilweise hohen Todesraten.

mr