Ein Schuss mit Nachhall

»Neuköllner Oper« bringt Bildgewaltiges auf die Bühne

Der Schuss, der durch tausend Köpfe ging, fiel am 2. Juni 1967 vor der Deutschen Oper und nahm einem frisch gebackenen Ehemann und werdenden Vater das Leben — es war der Student Benno Ohnesorg, der bei den Protesten gegen den persischen Schah von einem Berliner Polizisten erschossen wurde.

Szene aus »Der Schuss«.                                                                                                                          Foto: Matthias Heyde

Es ist die Figur seiner Frau Christa, die 50 Jahre später in einer anderen Berliner Spielstätte, der Neuköllner Oper, die Zuschauer an die Hand nimmt und durch die tosenden Szenen von damals führt. Es ist eine Geschichte von Kapitalismuskritik, politischen Utopien, radikalem Protest und dem inneren Seelenleben einer jungen Frau, die hofft, dass ihr Mann bald nach Hause kommt. Diesen Stoff in einer klassischen Oper zu bearbeiten, wäre so widersprüchlich wie unmöglich gewesen. So ist »Der Schuss« Musiktheater sondergleichen. Die szenischen Wechsel von Gesang, Video und Sprache schaffen gewaltige, schöne und verstörende Bilder, die sich in die Netzhaut einbrennen. Ihre volle Wirkung erlangen sie im Zusammenspiel mit der Musik des Ensembles »Adapter« unter der Leitung von Matthias Engler.
Die Musik, die der iranische Komponist Arash Safaian schrieb, fügt sich perfekt in die Handlung ein. Sie paßt in keine Schublade und ist völlig eigenständig, aber immer Teil des Geschehens auf der Bühne. Safaian, der in Teheran geboren wurde und dessen Vater vor den Mullahs Mitte der 80er ins Exil nach Deutschland floh, vermeidet sowohl die pathetischen und kitschigen Songs vieler Rockopern, als auch die völlig abstrakten Klanggebilde manch zeitgenössischer Werke.
Um das Kernquartett von »Adapter« aus Flöte, Klarinette, Harfe und Schlagwerk gruppieren sich E-Gitarre, Klavier, Synthesizer und Kontrabass. Bei dieser Besetzung ist von klassischen romantischen Motiven bis zu harten Rockriffs vieles möglich. Dadurch bleibt die Musik immer spannend.
Zwischen diesen Klängen treffen die Akteure von damals — Christa Ohnesorg, der persische Dichter, die Ehefrau des schießenden Polizisten — auf der Bühne in unwahrscheinlichen Begegnungen aufeinander, um sich am Ende doch nicht ganz zu berühren. Die Ideale und teils ideologischen Wirrungen der 68er Bewegung werden ebenso deutlich wie die harsch wirkende Entscheidung einer Mutter, ihr Kind in Obhut zu geben, um selbst in den Untergrund zu gehen: Gudrun Ensslin und die RAF, die sich explizit auf die Erschießung Ohnesorgs beziehen. Und nach 50 Jahren ist der Kopf dieses jungen protestierenden Studenten zum »Kopf der Geschichte des Landes« geworden, gehört scheinbar zu den nationalen Mythen wie die Nibelungensaga. Gezeichnet durch ein Einschussloch, beigefügt vom Funktionär einer Staatsgewalt, die sich unendlich gegen jede Veränderung zu wehren weiß, erzählt dieser Kopf aber eine Geschichte von sozialen Bewegungen und internationaler Solidarität, die heute lauter denn je gehört werden sollte. jt/pschl