Neuköllner Alltägliches

Nachrichten aus dem »Neuköllner Tageblatt« vor 100 Jahren, bearbeitet von M. Rempe

Nr. 50 – Donnerstag, 1. März 1917
Fleischliche Genüsse am goldenen Hochzeitstage. In letzter Zeit haben sich die Anträge auf Ueberweisung von Fleisch zu Festlichkeiten sehr vermehrt. Die Reichsfleischstelle ist aber nicht in der Lage, diese Anträge berücksichtigen zu können und wird in Zukunft Fleischzulagen nur für die Feier der goldenen Hochzeit bewilligen.

Nr. 51 – Freitag,  2. März 1917
Das Haushalts=Alumi­nium beschlagnahmt. Das Oberkommando in den Marken veröffentlicht auf Ersuchen des Kriegsministeriums eine Bekanntmachung, die wieder tief in die wirtschaftlichen Verhältnisse der privaten Haushaltungen eingreift. Aluminiummetall an sich und im großen ist bekanntlich längst beschlagnahmt. Jetzt wird diese Maßregeln außer auf alle gewerblichen Aluminiumgeräte auch auf die gesamten Aluminiumgeräte ausgedehnt, wie sie sich nahezu in jedem Haushalt vorfinden. – Vielen Hausfrauen wird diese Beschlagnahme sehr unbequem sein, da sie sich bei den jetzigen teuren Preisen mit anderem Geschirr werden versehen müssen. Dennoch wird die Maßregeln ja wohl nötig sein. Auffällig ist nur, daß man noch in allerletzter Zeit große Ausprägungen von Aluminiumgeld vorgenommen hat, das zwar im Verkehr sehr angenehm ist, das aber doch, wenn das Aluminium so knapp ist, daß man den Hausfrauen die Kochtöpfe wegnehmen muß, auch hätte entbehrt werden können. – Es sei darauf hingewiesen, daß das Publikum vorläufig in der Angelegenheit nichts zu tun, sondern die Bekanntmachungen der Gemeindebehörden abzuwarten hat.

Nr. 59 – Sonntag,  11. März 1917
Wilsons Entscheidung. Wilson ordnet die Schiffsbewaffnung an. Genf, 9. März. Nach einer neuen Unterredung mit dem Generalstaatsanwalt ließ Wilson nach einer Meldung des Petit Journal aus Washington gestern abend bekanntgeben, daß er von seinem Rechte, alle Handelsschiffe zu bewaffnen, Gebrauch mache und die nötigen Weisungen erteilt habe. Demgemäß werde die von Deutschland verhängte Unterseebootsperre für den amerikanischen Handelsverkehr als nicht bestehend betrachtet. Hinzugefügt wurde, daß der Abbruch der diplomatischen Beziehungen mit Oesterreich=Ungarn unmittelbar bevorstehe.

Nr. 65 – Sonntag,  18. März 1917
Manifest des Zaren über seine Abdankung. Petersburg. 16. März. Die Petersburger Telegraphenagentur veröffentlicht ein kaiserliches Manifest, worin der Zar erklärt, um dem Volke die enge Vereinigung und Organisation aller Kräfte für einen raschen Sieg zu erleichtern, in Uebereinstimmung mit der Duma die Krone niederzulegen, und um sich von dem geliebten Sohn nicht zu trennen, die Nachfolge dem Großfürsten Michael Alexandrowitsch zu übergeben.

Nr. 66 – Dienstag, 20. März 1917
Aus Angst vor ihrem Ehemann aus dem Fenster der 4. Etage gesprungen ist Sonntag abend 8 Uhr die 43jährige Ehefrau des Gasarbeiters Wittzack, Isarstr. 9. Sie hatte aus einem geringfügigen Anlaß einen Streit mit ihrem Ehemann, was diesen so erregte daß er ausrief: »Ich reiße dich in Stücke«. Vor Angst lief die Frau nun in die Schlafstube und als ihr Mann nunmehr die Türfüllung zertrümmerte und unter Drohungen eindringen wollte, sprang die geängstigte Frau aus dem Fenster auf die Straße. Sie wurde schwer verletzt im städtischen Krankenwagen nach der Unfallstation in der Steinmetzstraße gebracht. Doch war sie bei ihrer Ankunft daselbst bereits verschieden. Die Leiche wurde beschlagnahmt.

Die Transkription des Zeitungstextes wurde mit Fehlern in der Rechtschreibung aus dem Original von 1916 übernommen. Das Original befindet sich in der Helene-Nathan-Bibliothek.

Der Zar dankt ab – Russland wird Republik

Der Krieg zerstört die alte staatliche Ordnung

Die im Vergleich zum Westen sehr rückständige Wirtschaft Russlands machte es unmöglich, einen Krieg gegen das wirtschaftlich starke Deutschland durchzuhalten. In der Industrie fehlten ausreichende Kapazitäten für die Produktion von Waffen, Ausrüstung und Versorgungsgütern für die Millionen von Soldaten.
Je länger der Krieg dauerte, um so schlechter wurde die Versorgungslage. An der Front kam es zu Unruhen, und es kam vor, dass ganze Truppenteile geschlossen desertierten.
Seit Jahresbeginn 1917 riss in der russischen Hauptstadt Sankt Petersburg die Welle der Hungerdemonstrationen und Streiks nicht mehr ab. Am 3. März traten die Arbeiter des Putilow-Werkes, eines der größten Industriebetriebe Russlands, in den Ausstand. Fünf Tage später, am 8. März, schlossen sich Zehntausende von Frauen der sich ausweitenden Protestbewegung an. Sie forderten sofortigen Frieden, Brot, Land und das allgemeine Wahlrecht.
Am 11. März erteilte Zar Nikolaus II. den Truppen der Petersburger Garnison den Befehl, den Aufstand niederzuschlagen. Einige unbewaffnete Arbeiter fielen im Kugelhagel; trotzdem zogen sich die Demonstranten nicht zurück, bis schließlich Teile der zaristischen Truppen auf die Seite der Arbeiter wechselten und sich weigerten, weiter auf das Volk zu schießen. Die Revolution war nicht mehr aufzuhalten.
Innerhalb von 24 Stunden hatte sich die gesamte Garnison bis auf einige hundert Soldaten den Aufständischen angeschlossen.Damit war das Schicksal der Monarchie besiegelt. Die jahrhundertelange Zahrenherrschaft brach innerhalb weniger Tage vollständig zusammen.

Zar Nikolaus II. und Familie.                           Foto: Ökumenisches Heiligenlexikon

Am 15. März 1917 zwang ihn die Duma abzudanken. Wenig später wurden er und seine Familie festgenommen und nach Sibirien verbannt. Am 17. Juli 1918 wurde die gesamte Familie erschossen.
Die Abgeordneten der Duma riefen die Republik aus und bildeten eine »Provisorische Regierung«. Aber auch die dachte gar nicht daran, endlich Frieden zu machen. Das bot den Bolschewiki die Chance zum Putsch. Am 7. November putschte sich Lenin an die Macht und etablierte die Diktatur des Proletariats. mr