Neuköllner Alltägliches

Nachrichten aus dem »Neuköllner Tageblatt« vor 100 Jahren, bearbeitet von M. Rempe

NK_Tagblatt-Kopf

Nr. 233 – Mittwoch,  4. Oktober 1916
Nur alle 10 Tage ein Ei. Noch vor dem 1. Oktober waren alle Neuköllner glücklich im Besitz der Eierkarte, die bis zum Weihnachtsfest Gültigkeit hat. Man gab sich damit zufrieden, daß man 1 Ei für die Woche erhalten sollte. Aber plötzlich am 2. Oktober erfuhr man, daß die Reichs=Eierstelle sich die Sache anders überlegt hat. Nur auf 10 Tage sollte 1 Ei kommen. Nun waren die Karten in Großberlin, die auf Wochenabschnitte lauteten, bereits verteilt, ein Einziehen dieser Karten hätte große Schwierigkeiten bereitet, nicht minder eine Ausgabe neuer. Da ursprünglich von der Z.E.G. 2000 Kisten zu 24 Schock für Großberlin in Aussicht gestellt waren, so hätte auch die Verteilung, wie sie angekündigt war, vorgenommen werden können. Wie die »Voss. Ztg.« hört, hat die Reichs=Eierstelle die Z.E.G. angewiesen, statt der 2000 Kisten nur 1500 Kisten für Großberlin zur Verfügung zu stellen. Es solle dies in weiser Voraussicht geschehen sein, um Vorräte für spätere Zeit in Bereitschaft zu haben. Die jetzt zurückgehaltenen Eier sollen in Kühlhäuser gelegt werden. Manche Sachverständige meinen freilich, daß der rechte Zeitpunkt für die Einlagerung in Kühlhäuser bereits verpaßt sei. Dagegen muß man sich aber mit aller Entschiedenheit wenden, daß wieder einmal in Großberlin im letzten Augenblick herumexperimentiert wird. Alle Maßnahmen, die von den Gemeindeverwaltungen Großberlins hinsichtlich der Eierversorgung getroffen wurden, gingen davon aus, daß 1 Ei auf den Kopf der Bevölkerung für die Woche kommen sollte. Man kann dann nicht plötzlich ohne weiteres verfügen, daß dieses Ei für 10 Tage reichen soll.

Nr. 233 – Mittwoch,  4. Oktober 1916
Weshalb wir Kriegsanleihe zeichnen müssen! Eine Stimme von der Front. Aus dem Felde wird geschrieben: »Ich zeichne keine Anleihe mehr. Die Sache ist mir zu unsicher, ich kaufe eine Hypothek,« hörte ich einen Herrn in meinem letzten Urlaub sich äußern. Es war mir bekannt, daß dem Herrn noch kein Geschütz zu Gesicht gekommen war, das eine Offensive mitgemacht hatte; ich wußte, daß er noch keinen deutschen Soldaten im Graben hat liegen sehen, rücklings mit halb geöffneten Augenlidern und lehmbeschmutzten, im Todeskrampf gekrallten Fingern; ich wußte, daß er noch nie in einem Lazarette war, wo das große Grauen des Schlachtfeldes sich in viele traurige Einzelschicksale auflöst. Darum sagte ich nichts. Aber mein Herz krampfte sich zusammen, und ich fühlte, daß ich rot wurde bis unter die Haarwurzeln. Ueber zwei Jahre halten wir nun in Ost und West die Wacht und sorgen dafür, daß euch kein Haar gekrümmt wird. Und jetzt ist euch unser Arm nicht mehr sicher genug, daß ihr uns das schickt, ohne das wir nicht halten können. Wie seid ihr doch so undankbar!

Nr. 233 – Mittwoch,  4. Oktober 1916
Kiebitze, Stare und Strandläufer auf dem Nahrungsmittelmarkt. Auf dem Geflügelmarkt erschienen zu Anfang des Sommers junge Saatkrähen. Sie wurden sehr gern gekauft, da sie einen vorzüglichen Braten abgeben. Jetzt sind zu den bisher üblichen Geflügelarten noch Kiebitze, Stare und Strandläufer hinzugekommen, um eine reichhaltige Abwechslung zu bieten. In dem Stande eines bekannten Berliner Milchhändlers in der Zentralmarkthalle konnte man gestern solche ausliegen sehen. Für die Kiebitze wurden für das Stück 2 M. gefordert, dagegen kosteten Stare nur 75 Pfennig und Strandläufer 1,50 M. das Stück.

Nr. 238 – Dienstag,  10. Oktober 1916
Doppelte sozialdemokratische Stadtverord­neten=Kandidaturen. Der sozialdemokratische Konflikt in den Kreisen Teltow und Niederbarnim wird auch bei den bevorstehenden Wahlen zu den Stadtparlamenten in Großberlin in Erscheinung treten. Die weitaus größte Zahl der Stadtverordneten und Gemeindevertreter in Teltow und Niederbarnim steht auf dem Standpunkt der Fraktionsmehrheit und hält besonders im Kreise Teltow zu den alten Wahlvereinen. Die Folge ist, daß die neuen Mehrheitsvereine diese Stadtverordneten nicht wiederwählen wollen. Es werden deshalb fast überall Doppelkandidaturen vorhanden sein.

Die Transkription des Zeitungstextes wurde mit Fehlern in der Rechtschreibung aus dem Original von 1916 übernommen. Das Original befindet sich in der Helene-Nathan-Bibliothek.

Wetten auf den Sieg

Kriegsanleihen finanzieren den Krieg und ruinieren das Volk

Kriegsanleihen waren das wichtigste Instrument der deutschen Regierung, um die gigantischen Ausgaben für Heer und Flotte zu finanzieren, denn auf dem internationalen Finanzmarkt war Deutschland weitgehend isoliert und konnte sich nicht mehr mit frischem Kapital versorgen. Und Steuererhöhungen hätten für Unmut unter den ohnehin schon durch den Krieg belasteten Bürgern gesorgt.

kriegsanleihe
Historisches Plakat

Kriegsanleihen waren Wertpapiere, die einen Kredit an staatliche Institutionen zum Inhalt hatten. Dessen Tilgung hing allerdings vom Ausgang der kriegerischen Auseinandersetzung ab, kam also einer Wette auf den Sieg der eigenen Streitkräfte nahe, denn zurückgezahlt werden sollte der aufgenommene Betrag durch Reparationen der besiegten Kriegsgegner.
Viele Bürger griffen zu, weil sie es als ihre patriotische Pflicht ansahen, die Soldaten an der Front zu unterstützen, und weil sie es für eine gute Geldanlage hielten, denn die Verzinsung war mit fünf Prozent recht hoch angesetzt, und der Reichstag selbst stand für die Sicherheit der Anleihen gerade.
Begleitet wurden die halbjährlichen Ausgaben der Anleihen durch massive Propaganda. Zeitungsartikel, Diavorträge und Sachfilme versuchten, die Bevölkerung von der Solidität der deutschen Finanzpolitik zu überzeugen. Plakate warben für die Zeichnung als patriotischer Pflicht. Damit erreichte der Staat, dass nicht nur die Mittelklasse, sondern auch Bauern, Handwerker und Arbeiter, die etwas auf der hohen Kante hatten, bei diesen Papieren zugriffen.
Bis zum Ende des Krieges 1918 gab die deutsche Regierung insgesamt neun Anleihen heraus, mit denen sie sich bei der Bevölkerung 98 Milliarden Reichsmark lieh, die rund 85 Prozent der Kriegskosten abdeckten.
Mit dem Kriegsende 1918 wurden auch die Hoffnungen auf Rückzahlung der riesigen Schulden durch Reparationen und Gebietsabtretungen der Kriegsgegner begraben. Mit der Hyperinflation bis 1923 wurden die Anleiheforderungen faktisch wertlos und meist vorzeitig durch den Gegenwert eines Butterbrotes abgelöst. 

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