Vater, Mutter, Stasi

Angela Marquardts Versuch der Vergangenheitsbewältigung

Marquart
PDS-Punkerin.                             Foto: mr

Am Ende der DDR waren mehrere Tausend Kinder und Jugendliche so genannte »Inoffizielle Mitarbeiter« (IM) der Staatssicherheit. Sie wurden in Jugendclubs, Kirchen und Schulen angesprochen und zur Überwachung ihres sozialen Umfeldes eingesetzt. Ihre Aufgabe war es, Lehrer und Mitschüler, Freunde, Eltern oder Verwandte  auszuhorchen. Angela Marquardt war eine von ihnen.
Mit ihrem unkonventionellen Auftreten stieg die junge Punkerin nach der Wende rasch zum Jungstar der Linken-Vorläuferpartei PDS auf. Mit 24 war sie bereits stellvertretende Parteivorsitzende. 2002 dann der Absturz, als eine Stasi-Verpflichtungserklärung auftauchte, die sie mit 15 Jahren unterschrieb. Inzwischen ist sie SPD-Mitglied und Mitarbeiterin von Andrea Nahles.
Aber sie will nicht, dass die Stasi auch weiterhin ihr Leben bestimmt. Deshalb hat sie beschlossen, ihre Geschichte öffentlich zu machen. »Vater, Mutter, Stasi« heißt das Buch, in dem sie anhand ihrer Erinnerungen, ihrer Stasiakte und vieler anderer Dokumente erzählt, was aus ihrer Sicht damals wirklich geschah. Auf Einladung der Buchhandlung »Die gute Seite« stellte sie sich gemeinsam mit ihrer Co-Autorin, der Journalistin Miriam Hollstein, am 8. Juli bei »Kutschen Schöne« den Fragen ihrer Leser.Sie werde immer wieder gefragt, warum sie den Überwachungsstaat nicht hinterfragt habe, erzählte sie dort. Aber »ich kannte den Begriff gar nicht«. Auch die Stasi war Normalität und gehörte sozusagen zum Alltag. Die Führungsoffiziere gingen als Freunde der Familie in ihrem Haus ein und aus. Sowohl Eltern als auch Großvater waren IM. Vom leiblichen Vater misshandelt, vom Stiefvater sexuell missbraucht, waren die Stasileute die ersten »männlichen Bezugspersonen, die mir nichts antaten«, sagt Marquardt. Dafür vertraute sie ihnen.
Aber sie weicht ihrer Verantwortung nicht aus. Auch wenn Roland Jahn, der Leiter der Stasiunterlagenbehörde, sagt, Kinder und Jugendliche seien Betroffene und nicht Täter, sieht sie sich selbst als Täterin. »Was wäre gewesen, wenn die Mauer nicht gefallen wäre«, fragt sie sich.
In dem Fall wäre ihr Weg klar vorgezeichnet gewesen. Obwohl sie mit der Kirche nichts am Hut hatte und eine Sportlerlaufbahn in der Nationalen Volksarmee anstrebte, sollte sie Theologie studieren, um später als Kirchenfunktionärin die Kirchenkreise in Greifswald auszuspionieren. Bis 1995 war ihre »Karriere« durchgeplant. Die Wende, sagt sie, habe sie als Chance erlebt, nicht als Bedrohung.
Angela Marquardt beschreibt in ihrem Buch ein besonders dunkles Kapitel des DDR-Überwachungssystems, das bis heute nur ungenügend aufgearbeitet ist. Für sie ist es ein erster mutiger Schritt, sich von ihrer Vergangenheit zu befreien. Aber »der Prozess ist noch lange nicht zu Ende«, sagt sie.

mr
Angela Marquardt »Vater, Mutter, Stasi: Mein Leben im Netz des Überwachungsstaates«, Kiwi-Paperback, 2015, 248 Seiten, 14,99 Euro