Palast der »Kreativklasse« auf der Karl-Marx-Straße

 

Edelkalle. Foto: hlb

»Kalle Neukölln« codiert altes Warenhaus um

Quelle, SinnLeffers, Karstadt, Schnäppchen-Center – das passte zur gemäßigt pulsierenden Karl-Marx-Straßen-Meile. Nun wird das 1970 errichtete ehemalige Kaufhaus umgebaut und mit einem neuen Nutzungskonzept versehen. Samt der Hochgarage an der Donaustraße beim Stadtbad wird aus dem unspektakulären Kiezshoppingziel nach langem Leerstand seit 2019 ein imposantes Bauwerk »für zeitgemäße Nutzungen«, das für Aufsehen und wohl auch Aufregung sorgen wird.
Beim Alfred-Scholz-Platz wird die Umnutzung bisheriger Waren- und Parkhäuser generell neu gedacht und eine preiswürdige Stadt- und Projektentwicklung versucht. Neue Wohnungen werden hier nicht entstehen, dafür auf 26.000 Quadratmetern, verteilt auf fünf Etagen, von diversen Architekturbüros entworfene neuartige, mieterspezifisch-individuelle Bürostrukturen. Dazu 4.000 Quadratmeter Handelsfläche, 6.000 Quadratmeter »Foodmarket« und eine Liveevent-Location.
Kumpelhaft wird das Luxus- und Hochgentrifizierungsprojekt »Kalle« genannt, wolle man doch gewachsene Kiezstrukturen erhalten und das Gebäude durch »Umprogrammierung« wieder »spannend« machen.
Das Hunderte Millionen schwere Immobilienprojekt der versierten wie gewieften »Maruhn Real Estate Investment GmbH« (MREI) sieht sich als bisher europaweit einmaligen, freundlichen, hellen und topmodernen Gesamtkomplex, visionär, doch ohne »wie ein Ufo wahrgenommen zu werden«. Geplanter Höhe- und Anziehungspunkt: der 4.000 Quadratmeter große Dachgarten als »Genusslandschaft« mit Gewächshäusern, Kräutergarten, Bars, Bistro, Biergarten, »Fine Dining« und gar einem »Infinity Pool«-Schwimmbecken – planschen mit Blick über Nordneukölln.
Dieser »Chill-out-Treffpunkt«, »exklusiv, leger und lecker« und »offen für alle«, wird wohl nicht auf die Offenheit aller Neuköllner stoßen. Löblich, dass Abriss vermieden, die Grundstruktur der beiden Bestandsgebäude erhalten, licht-luftig aufgelockert und alles durch ein großzügiges neues Atrium vermutlich einladend gestaltet wird. Kommerz war hier schon immer, nun soll hier zudem ein »moderner Kreativkosmos« entstehen, der unverhohlen vor allem eine urban-elitäre Kultur- und Wirtschaftsklasse anziehen will.

Plattenbau. Foto: hlb

Zeitgeistig, wenn auch arg neusprechfixiert und hip-hedonistisch ranschmeißend schwärmt und deliriert die Eigenwerbung von »Hülle & Fülle, Work & Leisure Landscape, great & tasty, connecten & chillen, grün & genial, Klasse & Creation, berlinesque & kosmokulti« – so hatten wir die KMS bisher nicht gesehen. Ob und wie das täglich geöffnete Gebäude von Alt-, Neu- und Nicht-Neuköllnern angenommen wird, bleibt gespannt abzuwarten. Eine »Aufwertung« wird »Kalle« für den Kiez so oder so bedeuten.
Noch ist im »Kalle Neukölln« Baustelle, doch erste Mieter stehen schon fest. »Edeka« und der Versicherungsdealer »WeFox« sollen kommen; am 18. April hat hier schon mal der britische Schallplattenhändler »Rough Trade« seinen ersten Flag­ship-Store auf dem europäischen Kontinent eröffnet. Bemerkenswert, machen doch viele Musik­läden in diesen streamingdominierten Zeiten dicht. Aber Vinyl boomt, wenn auch als leider kostspieliges Vergnügen. Wie in den »Rough Trade«-Shops in Britannien und den USA werden LPs (keine CDs!), Bücher, Merchandise wie Poster und Aufnäher, Plattenspieler und mehr feilgeboten.
Das kleine Independent-Imperium startete 1976 in London als Plattenladen, wurde zu einem legendären Label, dann zu einem Vertrieb und einem Netz aus Geschäften. Schwerpunkt war am Anfang Punk, später auch Reggae, Dub und Ska bis hin zu Indie-Folk und anderen eher subkulturellen Genres, was zum ikonischen Image beitrug. Heute gibt’s hier stilistisch (fast) alles, wenn auch nicht im Vollsortiment. Preislich ist der Laden eher eine Boutique; selbst gebrauchte Scheiben rangieren zwischen fünf und 25(!) Euro; da lohnt eher der Flohmarkt- und Second-Hand-Händler-Besuch. Erste Attraktion kurz nach Eröffnung war der internationale »Record Store Day« am 20. April, an dem alljährlich exklusive und limitierte Platten-Editionen in teilnehmenden Läden angeboten werden.
Curt Keplin, EU-Geschäftsführer der Firma, zeichnet für den 270 Quadratmeter großen »Rough Trade« mit seinem schwarz-weiß-grauen Industrieambiente verantwortlich. Als Kind träumte er schon davon, einen eigenen Plattenladen zu haben, jetzt bedient er in Neukölln die Trends und zahlungskräftigen Fans traditionellen wie modernen Musikkonsums.
In Rixdorfs »Kalle« ist also zumindest auch schon mal Musike.

hlb
Rough Trade, Karl-Marx-Str. 101, Mo – Sa 11 – 20 Uhr, www.kalle-neukoelln.de, www.roughtrade.com/de-de/stores/berlin