Von Kabul bis Berlin

Wie ich lernte an meinen Träumen festzuhalten

Meine Geschichte beginnt damit, dass meine Mutter zu mir sagte, ich solle aufhören, zur Schule zu gehen, weil es nicht sicher für mich sei. An jenem Tag war ich voller Lehrbücher und Träume von der Universität Kabul, doch sie verschwanden vor meinen Augen. Wir begaben uns auf einen schwierigen Weg in den Iran, voller Albträume. Dort konnte ich nicht zur Schule gehen, weil ich keinen Aufenthaltstitel hatte. Ich entschied mich, mir selbst Englisch beizubringen.


Nach drei Jahren im Iran fühlte ich eine Leere, denn während meine Altersgenossen zur Schule gehen konnten, durfte ich dort nicht hin. Die Zukunft war für mich düster und ungewiss. Meine Mutter beschloss, nach Europa zu flüchten, damit ich studieren konnte. Aber wir wussten nicht, dass es zweieinhalb Jahre dauern würde, um unser Ziel zu erreichen. Die Reise war voller Angst und Unsicherheit. Wir durchquerten viele Länder, in der Dunkelheit der Nacht wanderten wir kilometerweit zu Fuß zwischen riesigen und dunklen Wäldern, fernab von menschlichen Augen. Die Angst, dass uns jemand sehen und die Polizei informieren würde, war jede Sekunde präsent. Als ich die Polizei sah, fühlte ich mich nicht mehr sicher. Ich hatte Angst.
Mittlerweile lebe ich seit zweieinhalb Jahren in Deutschland. Die Strapazen der Reise, die Sorgen und der Schrecken haben mich immer noch nicht losgelassen. In Berlin traf ich Elio, die meine Verwirrung am Bahnhof bemerkte. Sie half mir, und unsere Freundschaft begann. In Elio und ihren Freunden habe ich Menschen gefunden, mit denen ich meine Sorgen teilen kann, zusammen lachen und weinen kann. Sie wurden zu meiner zweiten Familie.
Bereits 20 Tage nach meiner Ankunft in Berlin durfte ich zur Schule gehen, um die deutsche Sprache zu lernen. Den ersten Schultag werde ich nie vergessen, ich war sehr aufgeregt. Nach fünfeinhalb Jahren konnte ich endlich zur Schule gehen! Das Gefühl, das ich an diesem Tag hatte, war so: Ich habe am Bergsteigerwettbewerb teilgenommen und schließlich nach vielen Schwierigkeiten den Gipfel erreicht. Ich war erfüllt mit Stolz. Stolz darauf, während meiner langen Reise nie die Hoffnung verloren zu haben und endlich angekommen zu sein.
Nachdem ich mein Sprachzertifikat abgeschlossen hatte, ging ich mithilfe eines Sozialarbeiters in eine Erwachsenenschule und schloss die neunte Klasse als Klassenbeste ab. Dort wurde mir klar, wie sehr ich mich für Chemie und Biologie interessierte. Ich beschloss, meinem Interesse zu folgen. Nach einem weiteren Gespräch mit dem Sozialarbeiter habe ich die Schule gewechselt. Seitdem besuche ich die Lise-Meitner-Schule, weil sie einen naturwissenschaftlichen Schwerpunkt hat. Nach einem Monat traf ich dort Timo, meinen Talentscout. Er ist ein sehr freundlicher und sympathischer Mensch, der mich unter anderem dabei unterstützt, meinen Lebenslauf und Bewerbungen zu schreiben. Timo hatte für mich jederzeit ein offenes Ohr. Als er mich einmal zu einer Talentscouting-Veranstaltung einlud, ging ich dorthin und hörte die Geschichte eines der Berliner Talente, fast eine ähnliche Geschichte wie mein eigenes Leben, ein Mädchen, das alleine die Verantwortung für ihrer kranke Mutter hatte und gleichzeitig versuchte, eine Zukunft für sich aufzubauen. Ich konnte in diesem Moment endlich mit jemandem reden, der meine Geschichte verstand. Ich hatte das Gefühl, kurz nicht mehr alleine mit dem ständigen Druck der Verantwortung zu sein, und meine Motivation stieg. Das ist auch der Grund, warum ich meine Geschichte hier niederschreibe: Weil ich sicher bin, dass es Menschen um mich herum gibt, die auch unter dem gleichen Druck von Schwierigkeiten, Verantwortung und Einsamkeit stehen. Die, wie ich, von einer langen Reise mit viel Angst, Einsamkeit und Not zurückgekommen sind. Ich bin mir jedoch sicher, dass wir weitermachen sollten und uns das Leben aufbauen können, von dem wir geträumt haben. Meine Message an alle da draußen, denen es ähnlich geht wie mir, ist daher: Ihr seid nicht allein!

(Nazanin, 20)