Die Erfindung der »Unterklasse«

Kaste, Klasse und Staat nicht unter den Tisch fallen lassen

Wie schnell sind wir mit Begriffen. Neukölln wird als »sozialer Brennpunkt« bezeichnet, auch von »guter Vielfalt« ist die Rede. Weitere Begriffe kommen auf dem Weg zu »Lösungen« ins Spiel, »Bildungsferne« und »gute Bildung und Chancen für alle«. Politisch leichter gesagt als getan. Für die Soziologie gilt das auch. Die »sozial Schwachen« tauchen auf.
Loïc Wacquant greift das alles zu kurz. Sein Buch »Die Erfindung der »Unterklasse«« ist eine fundierte Studie zu einer »Politik des Wissens«. Diesen Begriff allerdings hinterfragt Wacquant ebenfalls. Denn Wissen habe mit einem geprägten Blick zu tun.
Drei wissenschaftliche Ansätze führt Loïc Wacqant zusammen. Der Ansatz, dass es in der Politik grundsätzlich um die asymmetrischen Begriffe »Freund und Feind« gehe. Hier komme schnell ins Spiel, aus Unruhen, die sich 1977 in Harlem ereigneten, einen »rassisierten Volksteufel« als »Unterklasse« entstehen zu lassen. Der zweite Ansatz stammt aus der »historischen Epistemologie«, die begriffliche Erkenntnisse in meistens nicht kontinuierliche Prozesse einordnet. Auch dabei kommt es auf den Blick an, auf Annahmen, die zu ergründen sind. Und schließlich folgt Wacquant dem Franzosen Pierre Bordieu, der die anderen Ansätze hinterfragend aufnimmt und den objektiven Blick erweitert, und zwar um den empirischen Grund ganz konkreter Klassenverhältnisse.
Loïc Wacquants Studie ist kein einfaches Kompendium. Er begnügt sich nicht mit simplen Schlussfolgerungen sondern verlangt immer nach der konkreten Analyse. Doch ein scheinbar simpler Schluss, der in der politischen Praxis manchmal wie eine alte Phrase klingt, wird fundiert belegt: bei allem darf »die historische Verflechtung von Kaste, Klasse und Staat in der (städtischen) Metropole« nicht verloren gehen. Sonst wird es sozialen Fortschritt nicht geben.

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Loïc Wacquant, Die Erfindung der »Unterklasse«, Dietz Berlin 2023, 216 Seiten, 25 Euro