Neuköllner Alltägliches

Nachrichten aus Neuköllner Zeitungen vor 100 Jahren, bearbeitet von M. Rempe

Neuköllner Tageblatt, Sonnabend, 3.11.1923
Das statistische Amt teilt mit: Bei der letzten Viehzählung vom 1. Oktober wurden nach den Feststellungen des Statistischen Amtes der Stadt Berlin in 28 218 viehhaltenden Haushaltungen (einschl. Vieh= u. Schlachthof) 16 850 Stück Rindvieh, 7567 Schafe, 33 910 Schweine und 43 223 Ziegen gezählt.

Neuköllnische Zeitung, Montag, 5.11.1923
Ein Zigarrenjubiläum. Im Januar nächsten Jahres will man in Newyork die Tatsache, daß die Zigarre gerade 125 Jahre existiert, besonders feiern. Die Tabakhändler treffen bereits allerhand Vorbereitungen, um die Jubilarin gebührend zu ehren. In erster Reihe ist eine Theatervorstellung zu höherem Ruhm der Zigarre geplant. Bei uns in Deutschland wird man die Zigarre dann vielleicht nur noch vom Hörensagen kennen, da sie wahrscheinlich nur für Trillionäre erschwinglich sein wird.

Neuköllnische Zeitung, Donnerstag, 8.11.1923
Britz. Vor den Spitzbuben ist nichts mehr sicher! So haben sie jetzt in den Körnerschen Kiesgruben zwischen Buschkrug und Kreiskrankenhaus 16-20 Bohlen der Fahrbahn entwendet. Wie sie die schwere Last unbemerkt fortbekommen haben, ist ein Rätsel. Für Nachweis der Täter ist eine hohe Belohnung ausgesetzt. Mitteilungen nimmt die hiesige Kriminalpolizei entgegen.

Neuköllner Tageblatt, Sonnabend 10.11.1923
Die Reichsregierung an das deutsche Volk. Novemberspuk in München. – Ludendorf und Hitler sind verhaftet. Die deutsche Reichsregierung erläßt folgenden Aufruf: An das deutsche Volk! In der Zeit größter außenpolitischer Bedrängnis haben Verblendete sich ans Werk gemacht, um das deutsche Reich zu zerschlagen. In München hat eine bewaffnete Horde die bayerische Regierung gestürzt, den bayerischen Ministerpräsidenten v. Knilling verhaftet und sich angemaßt, eine Reichsregierung zu bilden und den General Ludendorff zum angeblichen Befehlshaber der deutschen Armee, Herrn Hitler, der erst vor kurzer Zeit die deutsche Staatsbürgerschaft erworben hat, zum Leiter der Geschicke Deutschlands zu bestimmen. Es bedarf keines Hinweises darauf, dass diese Putschbeschlüsse null und nichtig sind. Wer diese Bewegung unterstützt, macht sich zum Hoch= und Landesverräter. Statt unsern Brüdern im Rheinland und an der Ruhr zu helfen, die für Deutschland kämpfen, stürzt man Deutschland in Unglück, gefährdet die Ernährung, bringt uns in die Gefahr eines feindlichen Einmarsches und zerrüttet alle Aussichten auf die Anbahnung wirtschaftlicher Gesundung.

Neuköllner Tageblatt, Sonnabend 10.11.1923
Die Moral im Volke schwindet mit dem Sinken der Staatsautorität und der Zunahme der allgemeinen Staatsverdrossenheit. Der Staat und das Reich sind leider von der Schuld, hierzu mit beigetragen zu haben, nicht freizusprechen. Rücksichtslos hat das Reich z. B. die Zinszahlungen auf Kriegsanleihen usw. eingestellt. Alle eingegebenen Eingaben von geschädigten, hungernden und enttäuschten Opfern sind unberücksichtigt geblieben. Als die Kriegsanleihen aufgelegt wurden, entfaltete man mit allen möglichen Mitteln eine Riesenpropaganda. Die Aermsten gaben ihr Scherflein. Diesen Opfern gegenüber sollte die Regierung einmal moralisches Empfinden bekunden und nicht nur den Opfern Zinsen zahlen, sondern für eine Aufwertung der Anleihe und Zinsen sorgen, damit ihr Ansehen gestärkt wird und nicht der letzte Rest von Moral verloren geht. Es handelt sich hier um gerechte Ansprüche kleiner Rentner.

Die Transkription der Zeitungstexte wurde mit Fehlern in der Rechtschreibung aus den Originalen von 1923 übernommen. Die Originale befinden sich in der Zentral- und Landesbibliothek, Breite Straße 30, 10178 Berlin.

Putschversuch in München

Hitlers erster Griff zur Macht

Am 9. November 1923 versuchte Adolf Hitler in München zum ersten Mal, politische Macht zu erlangen.
Mit bewaffneten Spießgesellen stürmte Hitler am Abend des 8. November 1923 eine Kundgebung des nationalistischen und monarchistischen Generalstaatskommissars Gustav von Kahr vor bürgerlich-nationalistischem Publikum im Münchner Bürgerbräukeller. Die SA umstellte das Lokal, Hitler ließ den Saal mit einem Maschinengewehr in Schach halten und verschaffte sich mit einem Pistolenschuss in die Decke Gehör.
Er rief die »Nationale Revolution« aus und erklärte die bayerische sowie die Reichsregierung für abgesetzt. Die Hälfte der bayerischen Minister wurde noch in der Nacht verhaftet.

Flugblatt der Putschisten. Foto: historisch

Aber Hitlers Putsch hatte keinen Erfolg. Bis auf die NSDAP-Gefolgschaft und den völkischen General Ludendorff unterstützte ihn niemand, weder Polizei noch Reichswehr schlugen sich auf seine Seite.
Am Morgen des 9. November marschierten mehrere Tausend, zum Teil schwer bewaffnete Hitler-Anhänger unter Führung Ludendorffs vom Bürgerbräukeller in die Münchener Innenstadt. In der Residenzstraße kam es zu einem Feuergefecht, bei dem vier Polizisten und 16 Demonstranten starben. Während Hitler entkam, wurde Ludendorff verhaftet, jedoch am gleichen Tag wieder auf freien Fuß gesetzt. Hitler wurde am 11. November 1923 verhaftet und die NSDAP im gesamten Reich verboten.
Hitler-Anhänger ließen anschließend auf Flugblättern keinen Zweifel daran, wer die Schuld am Scheitern des Umsturzversuchs trug: Der bayerische Generalstaatskommissar Kahr, der ebenso wie Otto von Lossow, Kommandeur der in Bayern stationierten 7. Division der Reichswehr, dem »völkischen Befreier« Hitler die Gefolgschaft verwehrt hatte.
Die NSDAP wurde nach dem missglückten Putschversuch reichsweit verboten. Im Hochverratsprozess gegen Hitler im Februar 1924 wurde er zu fünf Jahren Festungshaft verurteilt, aus der er nach neun Monaten unter Auflagen entlassen wurde. Während der Haft formulierte er Teile seiner Hetzschrift »Mein Kampf«.
Wenige Wochen nach seiner Entlassung gründete er die NSDAP neu. Im Dezember begann Hitler mit dem Aufbau der SS. Die NSDAP hatte knapp 30.000 Mitglieder, sieben Jahre später 850.000.

mr