Neuköllner Alltägliches

Nachrichten aus Neuköllner Zeitungen vor 100 Jahren, bearbeitet von M. Rempe

Neuköllner Tageblatt, Dienstag, 2.10.1923
Der Hetzbund. Eine Reihe von jüdischen Familien im Berliner Westen fand in ihren Briefkästen Drohschreiben, die mit Totenköpfen, Dolchen usw. versehen sind, in denen es u. a. heißt: »Juden heraus! Wir wissen genau, wo ihr Geld liegt. Morgen über Tage sind Sie eine Leiche. Sehen Sie sich vor unserer blutigen Rache vor. Wir wollen Blut, wenn Sie nicht binnen vier Wochen die Wohnung räumen. Wird diese Sache laut, so sind Sie sowie Ihre Kinder Leichen. Eine weitere Mahnung erfolgt nicht.« Unterschrieben sind diese Briefe: »Der Hetzbund«. Verschiedene Empfänger dieser Drohungen haben sich mit der Kriminalpolizei in Verbindung gesetzt, die sofort Schritte unternahm, um die Schreiber und Verteiler zu ermitteln.

Neuköllnische Zeitung, Montag, 8.10.1923
Eröffnung des Tempelhofer Flughafens. Heute vormittag wurde der Flughafen auf dem Tempelhofer Feld den beiden Luftverkehrsgesellschaften Junkers und Aero Lloyd A.=G. übergeben. Stadtbaurat Dr. Adler wies in seiner kurzen Ansprache auf die Bemühungen der Stadt Berlin hin, das Tempelhofer Feld dem Flugverkehr zu sichern. Er dankte den beiden Luftverkehrsgesellschaften für ihre tatkräftige Mitarbeit an der Sicherung dieses Planes. Die Gebäude, die bisher errichtet sind, sind provisorisch. Sie sollen im nächsten Jahr fest ausgeführt werden. Nach der Uebergabe des Flugplatzes starteten die flugplanmäßigen Flugzeuge nach München (Chefpilot Aland vom Junkers=Luftverkehr). Der Platz ist noch nicht ganz fertig. Seine Herstellung gestattet jedoch für den Rest dieser Flugperiode das tägliche Landen und Starten der Flugzeuge. –Hamburg-London muß allerdings bis auf weiteres noch Staaken als Flughafen benutzen, da die großen englischen Flugzeuge auf dem Platz in seinem jetzigen Zustande nicht landen können. Im nächsten Jahre wird jedoch auch diese Strecke das Tempelhofer Feld als Ausgangspunkt benutzen.

Neuköllnische Zeitung, Dienstag, 9.10.1923
Tragisches Ende eines Musikstudenten. In seiner Wohnung, Kreuzbergstraße 15, hat sich der 22jährige Musikstudent Walter Bloth erschossen. Aus hinterlassenen Briefen und Papieren geht hervor, daß er seit Tagen nichts mehr zu essen hatte, und daß er aus Verzweiflung über seine Armut, die ihn zum Einstellen seines Studiums zwang, zum Selbstmord getrieben worden ist.
Neuköllner Tageblatt Sonntag, 14.10.1923
20 und 50 Milliarden= Noten. Wie wir erfahren, befinden sich in der Reichsdruckerei zur Zeit 20 und 50 Milliarden=Noten in Vorbereitung um den Ansprüchen der Wirtschaft nach Geldzeichen gerecht zu werden. Die Noten werden mit besonderer Sorgfalt hergestellt. Es finden nach einem völlig neuen photochemischen Verfahren angefertigte Wasserzeichenpapiere Verwendung, deren Nachahmung so gut wie ausgeschlossen erscheint.

Neuköllner Tageblatt, Donnerstag, 18.10.1923
Neue Unruhen in Neukölln. Gestern gegen Mittag bewegten sich wieder zahlreiche Erwerbslose, unter die sich auch allerhand Janhagel gemischt hatte, auf den Straßen. Der Hauptummelplatz war die Bergstraße. Wiederholt drangen größere Trupps in Bäckerläden ein, deren Inhaber sich dadurch vor Sachbeschädigungen schützten, daß sie die vorhandenen Brote freiwillig zur Verteilung brachten. Auch ein Zigarrengeschäft in der Bergstraße wurde heimgesucht, obwohl Tabakwaren nicht zu den Lebensmitteln zu zählen sind. Auch hier wurden den Eindringlingen freiwillig Tabakwaren verabfolgt. Das Ueberfallkommando erschien in allen Fällen zu spät, sodaß die Täter entkamen. Wie ein Lauffeuer hatte sich die Nachricht von den versuchten Plünderungen unter den Geschäftsleuten verbreitet, worauf alle Lebensmittelhändler schleunigst ihre Läden schlossen.

Die Transkription der Zeitungstexte wurde mit Fehlern in der Rechtschreibung aus den Originalen von 1923 übernommen. Die Originale befinden sich in der Zentral- und Landesbibliothek, Breite Straße 30, 10178 Berlin.

Schubkarre statt Geldbeutel

Die Hyperinflation 1923 vernichtete Sparguthaben und Existenzen und wurde zum deutschen Trauma

Als die Franzosen 1923 wegen verspäteter Reparationszahlungen das Ruhrgebiet besetzten, rief die deutsche Regierung zum passiven Widerstand, zu Sabotage und Streik auf. Im Gegenzug zahlte sie die Löhne an die Streikenden weiter. Damit geriet Deutschland in den Strudel der dramatischsten Geldentwertung, die das Land je erleben sollte.
Die Geldschein-Nominale erhöhten sich rasant, bis die Reichsbank im November als höchsten Wert einen Geldschein über 100 Billionen Mark drucken ließ. Zur Abwicklung des Zahlungsverkehrs wurden riesige Mengen an Scheinen benötigt.

Währung als Spielgeld.        Foto: historisch

Die Menschen rechneten in Bündeln statt Scheinen. Geld wurde in Schubkarren transportiert oder auch in Bündeln verbrannt, um Wärme im Ofen zu haben. Wer seinen Lohn nicht gleich nach Erhalt wieder ausgab, konnte sich schon Tage, manchmal Stunden später kaum mehr etwas davon kaufen. Wer seinen Lohn am Monatsende erhielt, war buchstäblich mittellos. Während die Arbeitslosigkeit stieg, fielen die Reallöhne ins Bodenlose, mit fatalen Folgen: Verarmung und Verelendung griffen um sich, Plünderungen und Krawalle gehörten zur Tagesordnung.
Über Nacht waren alle, oft jahrelang angesparten Rücklagen weggeschmolzen. Die Wechsel für die Kriegsanleihen an den Staat waren wertlos. Es war also die deutsche Bevölkerung, die die Lasten und Schulden des Ersten Weltkriegs schließlich bezahlte.
Saniert waren dagegen die Schuldner. Wer sich etwa 1921 für ein Haus oder anderen Grundbesitz verschuldet hatte, der war über Nacht seine Schulden los, denn gemäß dem Grundsatz »Mark = Mark« konnten Kredite, die bei einem stabilen Kurs aufgenommen worden waren, mit entwerteter Währung zurückgezahlt werden.
Größter Profiteur war der Staat. Am 14. November 1923 beliefen sich die Schulden durch den 1. Weltkrieg noch auf 154 Milliarden Mark. Als am 15. November 1923 die Rentenmark als neue Währung eingeführt wurde, waren es noch 15,4 Pfennige.

mr