Sparen bis es quietscht

Ohne genügend Geld müssen viele Leistungen des Bezirks eingestellt werden

Im Wahlkampf hat die CDU damit geworben, für eine funktionierende Stadt zu sorgen. Mit Eintritt in die Regierung scheint jetzt aber der Rotstift das Regiment übernommen zu haben. Vor allem die Bezirke sollen einen rigorosen Sparkurs verordnet bekommen, der sich, wenn es dabei bleibt, besonders im sozialen Bereich auswirken dürfte. Auch beim Personal muss gespart werden. Freie Stellen im Bezirksamt sollen temporär nicht nachbesetzt werden.
Das wird sich bemerkbar machen bei der Bearbeitung von Anträgen in allen Ämtern. »Damit wird eine Abwärtsspirale für den öffentlichen Dienst in Gang gesetzt. Das Versprechen einer funktionierenden Stadt wird beerdigt. Wer hier spart, spart an der Funktionsfähigkeit der Stadt«, sagte Bezirksbürgermeister Martin Hikel zum Auftakt der Bezirksverordnetenversammlung (BVV) am 28. Juni. Zudem würde dadurch der Unmut bei den Bürgern über eine dysfunktionale Stadt verstärkt. So werde Vertrauen in die Handlungsfähigkeit des Staates aufs Spiel gesetzt.
Nach der Zuweisung durch den Senat fehlen dem Bezirksamt Neukölln für die Haushaltsjahre 2024/2025 pro Jahr 22,8 Millionen Euro, um den Status Quo zu halten. Der Grund für dieses Problem liegt aus Sicht des Bezirks darin, dass der Senat nur einen Kostenanstieg in der Inflation von zwei Prozent berechnet habe, dabei liege diese bei zehn Prozent.
Allerdings kann in einem Bezirkshaushalt nicht beliebig einspart werden. Ausgaben für Kinder- und Jugendförderung, die Bearbeitung von Elterngeldanträgen, die Sanierung von Schulen, Sozialleistungen, Pflegeleistungen und vieles mehr machen den Löwenanteil in einem Bezirkshaushalt aus. Diese Ausgaben stehen fest, weil es sich um gesetzliche Verpflichtungen handelt. Gespart werden kann also nur an den sogenannten »freiwilligen Leistungen«. Damit sind »die Angebote betroffen, die direkt in die Kieze hineinwirken und sich unmittelbar an den Erforderlichkeiten der Bürgerinnen und Bürger ausrichten – kurzum, die jeder und jede im Alltag spüren wird«, heißt es in der Mitteilung des Bezirks­amtes.
Besonders Kinder und Jugendliche werden unter den Einsparungen zu leiden haben, die das Bezirksamt in einem sogenannten Eckwertebeschluss beschlossen hat. So sollen Wasserspielplätze geschlossen und kaputte Spielgeräte auf Spielplätzen nicht mehr erneuert werden. Drei Jugendfreizeit- beziehungsweise Familieneinrichtungen müssen geschlossen werden, auch Jugendreisen für bedürftige Kinder und Jugendliche können nicht mehr finanziert werden. Außerdem entfällt die Tagesreinigung an den Neuköllner Schulen und der Wachschutz an 12 Neuköllner Schulen. Die Obdachlosenhilfe muss reduziert werden, und die aufsuchende Suchthilfe fällt weg. Die Müll­entsorgung in Grünanlagen wird halbiert und die Stadtteilkoordination ab 2025 reduziert. Auch der beliebte Alt-Rixdorfer Weihnachtsmarkt muss voraussichtlich für die nächsten zwei Jahre abgesagt werden.
»Das ist eine Kampfansage gegen Kinder und Arme«, sagte Carla Assmann (Die Linke). In einer Pressemitteilung vom 29. Juni ergänzt die linke BVV-Fraktion: »Dagegen werden wir gemeinsam mit den Betroffenen Proteste auf der Straße organisieren.« Ein Auftakt wird am 5. Juli vor dem Neuköllner Rathaus gemacht. Bezirksstadträtin Sarah Nagel (Linke) hat mit fünf weiteren linken Bezirksstadträten am 30. Juni bekräftigt: »Keine Kürzungen bei den sozialen Leistungen, kein Rückschritt bei der Infrastruktur, gute Arbeit und Einstellung von dringend nötigem Personal, das sind unsere Forderungen.«
»Die funktionierende Stadt beginnt mit funktionierenden Bezirken. Kürzungen haben dramatische Folgen«, sagte Lars Oeverdiek (SPD) in der Sitzung der BVV.
Auf Anfrage von Kiez und Kneipe hob Tjado Stemmermann (Die Grünen) deutlich hervor, dass die Grünen den Sparkurs nicht mittragen würden.
Mit einer parteiübergreifenden Entschließung – lediglich die AfD enthielt sich – unterstützt die BVV den Brandbrief, in dem Martin Hikel im Namen aller Bezirksbürgermeister den Regierenden Kai Wegner und Finanzsenator Stefan Evers (beide CDU) vor den Folgen der Unterfinanzierung der Bezirke warnt.
Die Proteste haben erste Wirkungen gezeigt. Auf Facebook schreibt Martin Hikel: »Ich bin nach den ersten Reaktionen auch ein bisschen optimistisch, dass wir gemeinsam den Senat noch umgestimmt kriegen. Nur wird es nicht gehen ohne Proteste, und heute haben wir damit begonnen.«
Wirtschaftssenatorin Franziska Giffey kün­digte nach den Spitzengesprächen zum Haushalt am 29. Juni finanzielle Verbesserungen für die Bezirke an.
Am Tag darauf erklärte Evers, dass er für die Bezirke in den Folgejahren jeweils 100 zusätzliche Millionen locker machen wolle. »Das ist ein wichtiges Signal, das belegt: Wir Bezirke sind der Motor der Stadt. Allerdings fehlen den Bezirken 250 Mio. Euro. Herbe Einsparungen wird es damit auch weiterhin geben, da müssen wir uns nichts vormachen. Deshalb muss über die Ausfinanzierung der Bezirke im Abgeordnetenhaus weiter diskutiert werden«, schrieb Martin Hikel dazu auf Facebook.
Ein erster Entwurf des Haushalts soll am 11. Juli verabschiedet werden. Nach der Sommerpause berät das Abgeordnetenhaus darüber.

mr