Neuköllner Alltägliches

Nachrichten aus Neuköllner Zeitungen vor 100 Jahren, bearbeitet von M. Rempe

Neuköllnische Zeitung, Freitag, 6.4.1923
Aus Nahrungssorgen in den Tod. Das traurige Schicksal der Kleinrentner ist durch einen neuen Fall illustriert worden. Der 85 Jahre alte Rentenempfänger Benjamin Beyer stürzte sich gestern aus seiner im vierten Stock gelegenen Wohnung, Hermannstr. 1, auf den Hof. Er war sofort tot. Nahrungssorgen haben den alten Mann in den Tod getrieben.

Neuköllnische Zeitung, Freitag, 6.4.1923
Ein neues Betätigungsfeld für Frauen. Als erster weiblicher Tisch­lergeselle in Preußen hat Fräulein Marie Peschlow aus Nowawes bei Berlin ihre Gesellenprüfung bei der Innung Potsdam bestanden. Fräulein Pesch­low hat die Kunstmöbeltischlerei als Beruf gewählt.

Neuköllner Tageblatt, Sonntag, 8. 4. 1923
Was alles gestohlen wird! Eine auf dem Hofe des Grundstücks Elsenstraße 74 eingepflanzte Alpenrose im Werte von 21 000 M. wurde nachts gestohlen. – Aus dem Rathausturm in der Donaustraße entwendete ein noch nicht ermittelter Spitzbube den Motor der Turmuhr.

Neuköllner Tageblatt, Dienstag, 10. 4. 1923
25 Milchautos für die Vororte. Anstelle der mit Pferden bespannten Wagen der Meierei Bolle sind für den Vor­ortbetrieb bereits 25 Milchautos angeschafft worden. Jedes Auto kostet zwar über 12 Millionen Mark, aber der Betrieb soll sich billiger stellen als mit Pferden. Aber ob mit Pferden, ob mit dem Auto gebracht, billiger wird die Milch nicht. Sie muß doch aber auf Kosten der Konsumenten Riesenprofite abwerfen, wenn man gleich einige hundert Millionen für die Beschaffung von Autos ausgeben kann.

Neuköllnische Zeitung, Montag, 16.4.1923
Das Flugunglück auf dem Tempelhofer Feld. Drei Magistratsmitglieder getötet – Die Schuldfrage noch nicht geklärt. Von Mitgliedern des Magistrats, sowie von Vertretern der Reichs= und Staatsbehörden, von Handel und Industrie, war am Sonnabend eine Besichtigung des auf dem Tempelhofer Felde geplanten Zentralflughafens unternommen worden. Bei den sich anschließenden Probeflügen trug sich ein folgenschwerer Unglücksfall zu. Ein Flugzeug der Aero=Loyd ­=Gesellschaft unter der Führung des Piloten Noack stürzte über den Bäumen der Hasenheide mit drei Passagieren ab. Während der Flugzeugführer schwer verletzt wurde, fanden die drei Insassen den Tod.

Neuköllner Tageblatt, Sonnabend, 28.4.1923
Gegen eine weitere Zerstückelung des Tempelhofer Feldes sprach sich im Anschluß an einen Antrag der bürgerlichen Fraktion die Tempelhofer Bezirksversammlung aus. Wie wir hierzu hören, ist zwischen dem Reichsfiskus und den beteiligten städtischen Stellen der Zentrale bereits ein Einvernehmen über die Aufteilung des östlichen Feldes für den Flughafen, Sportplätze und Siedlungsgelände erzielt worden. Von der früher großen und freien Fläche werden danach für die Erholung der anwohnenden Bevölkerung nur Streifen im Süden, die Hasenheide und der nach Neukölln zu gelegene Teil übrig­bleiben. Unter dem Zeichen des »Militarismus« war das Tempelhofer Feld ein einziger großer schöner Spiel= und Sportplatz ohne jede Einschränkung und ohne…Apparat, zum freien und frischen Tummeln für jung und alt. Heute ist es ein Spekulationsobjekt geworden für Klein…Siedlungen, Sportplätze hinter abscheulichen Drahtzäunen und fragwürdigen Fluganlagen.

Die Transkription der Zeitungstexte wurde mit Fehlern in der Rechtschreibung aus den Originalen von 1922 übernommen. Die Originale befinden sich in der Zentral- und Landesbibliothek, Breite Straße 30, 10178 Berlin.

Umkämpfter Freiraum

Seit 100 Jahren sorgt die »Randbebauung« für den Schwund des Tempelhofer Feldes

Das Tempelhofer Feld, das Anfang des 20. Jahrhunderts im Westen noch weit über den heutigen Tempelhofer Damm hinweg reichte, musste im Laufe der Jahrzehnte manchen Schwund hinnehmen,
Ein Drittel des Feldes fiel ab 1908 der ersten »Randbebauung« zum Opfer, als westlich des Tempelhofer Dammes das Altbauquartier in der Nähe des heutigen Platzes der Luftbrücke entstand. Nach dem Ersten Weltkrieg folgte die »Gartenstadt Neu-Tempelhof«, das heutige »Fliegerviertel« mit rund 2000 Wohnhäusern.

Freizeitspass auf dem Feld.  Foto: mr

Der verbliebene Platz wurde bis 1918 militärisch genutzt, als Übungs- und Paradeplatz für die Königlich-Preußische Armee. Die regelmäßigen Paraden waren Volksfeste, die Hunderttausende von Zuschauern anzogen.
Militärisches Sperrgebiet war das Tempelhofer Feld aber nicht: Wenn nicht marschiert wurde, strömten die Berliner zu Tausenden nach Tempelhof, um dort ihre Freizeit zu verbringen. Ganze Familien kamen mit Fresskörben, Liegestühlen und Sonnenschirmen hierher, um zu picknicken. Mit den Kindern ließ man Drachen steigen, bei Pilzschwemmen wurde Jagd auf Champignons gemacht. Großes Interesse fanden waghalsige Flugversuche.
Auch im Winter wurde das Tempelhofer Feld eifrig frequentiert, dann standen Schlittschuhlaufen und Schlittenfahrten hoch im Kurs.
Auch im 21. Jahrhundert bleibt das Tempelhofer Feld ein Ort der Bewegung und lebendiger Auseinandersetzungen. Nachdem 2008 der Flugbetrieb eingestellt wurde, wurde das Feld wieder für die Bevölkerung geöffnet und zu einem der größten urbanen Freiräume weltweit, einer unendlichen Ebene in einer immer mehr verdichteten Stadt. Auch für viele bedrohte Tierarten und geschützte Pflanzen ist es ein wichtiger Schutzraum inmitten der Metropole.
2014 wurde per Volks­entscheid gesetzlich festgelegt, dass das Feld nicht bebaut werden darf. Doch seitdem wurde seitens der Politik und der Bauwirtschaft immer wieder an dem Beschluss gerüttelt.
Nun macht die CDU bei den Koalitionsverhandlungen einen neuen Vorstoß. Sie möchte das Volk erneut befragen, ob es nicht inzwischen seine Meinung geändert hat und doch eine »behutsame« Randbebauung mit Tausenden Wohnungen befürwortet.

mr