Verluste für die alte Kneipenkultur

Legendäre Traditionslokale fallen Verdrängung zum Opfer

»Where have all the good times gone?«, sangen schon die Kinks. Die heutigen Zeiten sind irr, vielfach unsozial und digital und in unberechenbarem Wandel, alles wird teurer – und ausgerechnet da verschwinden verlässliche Horte der Begegnung, der Bewahrung und bezahlbaren Belustigung: die einst doch so typischen Traditionskneipen.

DIE letzten Tage der »Kindl-Stuben«.    Foto: hlb

Wo man sich trifft, kennt oder schnell kennen lernt, zu alten Hits singt, wo verschiedene Generationen günstig und mit humoriger Berliner Schnauze Labsal und die neuesten Infos aus der Nachbarschaft erhalten. Schulle oder Jubi, Zigaretten und Kurze, kesse Sprüche oder tiefes Schweigen, Sportives, passiv wie aktiv, viele Fotos und Nippes zum Kucken – das war doch mal eine beliebte Melange aus Kultur, Freiheit und Gemütlichkeit, auch für den Nachwuchs, der in den kleinen Eckkneipen auf unseren Straßen inzwischen auch sichtlich gern seine Freizeit verbringt.
Doch mussten im neuen Jahr gleich mindestens zwei urkiezige Kneipenklassiker die Segel streichen, ein trauriger Aderlass und bedrückendes Beispiel des Kneipensterbens.
Dem »Handwerker Stübchen« in der Hermannstraße wurde nicht nur an Silvester vom feuerwütigen Mob übel mitgespielt. Eine dreiste Pachterhöhung um die 1.000 Euro brach dem Betrieb das gastronomische Genick. Wo sollen Handwerker nun hingehen? Gibt es eine wirtschaftliche Zukunft ohne Schnickschnack an der Ecke Aller?
Und im Rixdorfer Herrnhuter Weg hat im Februar für die »Kindl-Stuben« das letzte Stündlein geschlagen. Neue Hausbesitzer wollen sie, zum wiederholten Male, raushaben. Rauchfreie Nachnutzung ist zu erwarten. Seit gut 100 Jahren ist hier eine eingesessene Familienschwemme, ein Wohnzimmer für viele, eine Institution, und nun darf Wirt Micha Hasucha nicht mal mehr sein 40-jähriges Wirtsleben hier feiern. Was wird aus den Preziosen der patinareichen Einrichtung – dem Bert-Brecht-Teller, den Fotos aus den 30ern und dem veganen Aquarium? Micha würde am liebsten einfach alles so drin lassen. Stammgäste planten noch Widerstand gegen die Stilllegung, mit Rollatorbarrikaden und schwingenden Gehhilfen, doch an der Zeitgeist­entwicklung hätte das wohl nichts geändert. Auch das eine Letzte Generation.
Wir trauern um das Ende dieser ehrlichen Lokale. Die letzten Abschiede dieser Art werden dies wohl leider nicht sein.

hlb