Neuköllner Alltägliches

Nachrichten aus Neuköllner Zeitungen vor 100 Jahren, bearbeitet von M. Rempe

Neuköllnische Zeitung, Samstag, 3.2.1923
Auch die Großmütter besetzen. Die französisch=belgischen Truppen im besetzten Gebiet scheinen jetzt, um einen imposanteren Eindruck zu machen, auch ihre Mamas, ihre Großmamas, ihre Tanten, kurz ihren ganzen weiblichen Anhang nachkommen lassen zu wollen. In Duisburg ist ein unverheirateter Offizier gleich mit vier Weibern auf einmal erschienen: der Großmutter, der Mutter, einer unverheirateten und einer verheirateten Schwester. Vervollständigt wurde die Karawane durch zwei Kinder der verheirateten Dame. Auch in Dorsten vollzogen belgische Offiziere ihren feierlichen Einzug mit der ganzen Familie und den dazugehörigen Küchenfeen. Einer der Herren verlangte, daß ihm außer den üblichen Haushaltsgegenständen auch noch eine Kinderbadewanne, ein Kinderbett und Wäsche für dieses Bett zur Verfügung gestellt würden. Die Sache bekommt also entschieden einen Zug ins Idyllische, denn mit Großmüttern und Wickelkindern wird sich reden lassen.

Neuköllnische Zeitung, Montag, 5.2.1923
Schon wieder Vergiftungen durch Pferdefleisch. Gestern erkrankten in Hamburg acht Personen nach dem Genuß von Pferdefleisch derart schwer, daß sie ins Krankenhaus überführt werden mußten. Wann wird endlich für eine ausreichende Ueberwachung der Roßschlächtereien gesorgt werden? Man übereilt sich nicht, wir wissen – es handelt sich ja nur um den Fraß für die Proleten!

Neuköllner Tageblatt, Dienstag, 6.2.1923
Keine Pfannkuchen mehr! Die durch die Ruhrbesetzung aufs äußerste erschöpfte Wirtschaftslage des deutschen Volkes läßt eine Einschränkung in der Herstellung und dem Verbrauch aller mit Fetten und Eiern versetzten feineren Backwaren geboten erscheinen. Deshalb hat der Vorstand der Konditorinnung zu Berlin (Zwangsinnung) beschlossen, sich der freiwilligen Selbstbeschränkung der Gastwirte und Hoteliers anzuschließen. Für das gesamte Konditorengewerbe sollen deshalb nachstehende 4 Leitsätze sofortige Gültigkeit haben: 1. Butter und Eier dürfen zum Frühstück nicht gereicht werden. 2. Französische und belgische Weine, Liköre und Lebensmittel werden nicht gekauft und verabfolgt. Angehörige dieser beiden friedensstörenden Nationen sind als Gäste nicht anzunehmen. 3. Die Herstellung aller Backwaren in siedendem Fett ist zu unterlassen. 4. Der Verbrauch von Frischeiern und Fett ist auf das äußerste zu beschränken. Das Publikum wird nun gebeten, diese Maßnahmen insofern zu unterstützen, als es in Konditoreien und Bäckereien Pfannkuchen und Spritzkuchen nicht mehr verlangt. Die Konditorinnung wird gegen Kollegen, die sich dieser Selbstbeschränkung nicht unterwerfen, mit sehr strengen Strafen vorgehen.

Neuköllnische Zeitung, Samstag, 10.2.1923
Nach dem Genuß von Opium gestorben. Der Gärtner Hempel aus Steglitz besuchte gestern abend in weiblicher Begleitung eine Mampe= Stube in Steglitz und bestellte sich Getränke. Von seiner Begleiterin wurde ihm dabei eine Flüssigkeit ins Glas gegossen, die zur Folge hatte, daß der Gärtner, nachdem er getrunken hatte, schwer erkrankte. Er begab sich zur Rettungsstelle in Steglitz, wo er unter den Händen des Arztes starb. Nach vorläufiger Feststellung war die verhängnisvolle Flüssigkeit Opium. Ob es sich um einen Mord oder um einen Zufall handelt, muß erst noch aufgeklärt werden. Die Begleiterin ist festgenommen worden.

Neuköllnische Zeitung, Montag, 19.2.1923
Denkmäler in Schutzhaft. In Leipzig wurden auf Veranlassung der Stadtverwaltung die bronzenen Standbilder und Denkmäler abmontiert und eingezogen, damit sie nicht gestohlen werden. Wenn die Metallpreise wieder so niedrig sein werden, daß es sich nicht mehr lohnt, Denkmäler zu stehlen, wird man die Bronzebilder wieder aufstellen.

Die Transkription der Zeitungstexte wurde mit Fehlern in der Rechtschreibung aus den Originalen von 1923 übernommen. Die Originale befinden sich in der Zentral- und Landesbibliothek, Breite Straße 30, 10178 Berlin.

Der Ruhrkampf

Ein Nachspiel des Ersten Weltkriegs

132 Milliarden Goldmark. Auf diesen Betrag legten England und Frankreich im Londoner Protokoll vom 5. Mai 1921 die Reparationen fest, die das Deutsche Reich als Verlierer des Ersten Weltkriegs zahlen sollte.
Wegen der wirtschaftlichen und finanziellen Probleme Deutschlands hatten die siegreichen Westmächte bereits 1922 auf Zahlungen in Form von Geld verzichtet und zum Ausgleich eine Erhöhung der Sachlieferungen, unter anderem von Holz (Telegrafenstangen) und Kohle akzeptiert. Als diese nun auch nicht termingerecht geliefert wurden, marschierten am 11. Januar 1923 belgische und französische Truppen mit 60.000 Mann in das Ruhrgebiet ein.

Historisches Plakat.

Was folgte, ist als »Ruhrkampf« in die Geschichte eingegangen. Schon am 13. Januar rief die Regierung unter Reichskanzler Wilhelm Cuno zum passiven Widerstand auf und stellte alle Reparationszahlungen ein. Die Beamten wurden angewiesen, jede Zusammenarbeit mit den Besatzern zu vermeiden.
Der Verkehr, die Industrie und die Verwaltung arbeiteten nicht mehr, die Zechen standen still weil die Arbeiter streikten, alle wurden für das Nichtstun bezahlt, das Reich übernahm die Kosten. Weil aber das Geld dafür fehlte, wurde es kurzerhand gedruckt. Die Inflation geriet dabei völlig außer Kontrolle. Die Gegenmaßnahmen der Besatzer wie Ausgangssperren, Verhaftungen und Ausweisungen ins unbesetzte Gebiet, ließen nicht lange auf sich warten. Blutige Zusammenstöße zwischen Soldaten und der Bevölkerung waren an der Tagesordnung, eine Spirale der Gewalt kam in Gang.
Als die Truppen nach zweieinhalb Jahren Deutschland verließen, war das Land wirtschaftlich zerrüttet, sein Bürgertum in weiten Teilen ruiniert. Die Ersparnisse ungezählter Menschen waren vernichtet und mit ihnen das Vertrauen in den Staat. Vor allem aber verschaffte die Erinnerung an das französische Vorgehen Adolf Hitler die Popularität, die ihm Mehrheiten verschaffte und seinen neuen Kriegskurs als legitime Revanche erscheinen ließ.

mr