Neuköllner Alltägliches

Nachrichten aus Neuköllner Zeitungen vor 100 Jahren, bearbeitet von M. Rempe

Neuköllner Tageblatt, Mittwoch, 3.1.1923
Das neue Jahr ist in Neukölln ziemlich lebhaft begrüßt worden. Auf den Straßen war ein stärkerer Verkehr, als in anderen Jahren, und besonders eine gewisse Jugend tobte sich nach Herzenslust aus, da Polizei sich nirgends sehen ließ. Schon von Sonntag nachmittag ab wurde mit Feuerwerk, wie Böllerschüssen, Fröschen, Raketen usw., Unfug getrieben, der sich in den Abendstunden noch erheblich steigerte. Aber auch in in anderen Teilen Groß=Berlins war dies der Fall. Vom Kreuzberg aus konnte man nach Mitternacht einen seltenen Anblick genießen. Berlin war zeitweise taghell erleuchtet und von den Leuchtkugeln usw. prächtig überstrahlt. Die ganze Nacht wurde gelärmt und geschossen. Dabei waren auch zahlreiche Unfälle zu verzeichnen. Insgesamt wurden die Berliner Rettungsstellen in der Silvesternacht von 80 Verletzten aufgesucht. Neukölln steht dabei mit 25 Fällen an der Spitze. Mehrmals mußte auch das Ueberfallkommando der Schupo eingreifen, so in der Boddinstraße, wo es in einem Lokal zu einer heftigen Schlägerei kam. Auch hier gab es Verletzte. Die Lokale waren fast sämtlich stark besucht, besonders von jüngeren Leuten. Viele Familien feierten Jahresschluß und Neujahr aber daheim, denn eine Silvesterfeier im Lokal erfordert heute schon ein kleines Vermögen.

Neuköllnische Zeitung, Donnerstag, 4.1.1923
Der Leihsarg. Wir veröffentlichten kürzlich einen Artikel über die sehr erhebliche Verteuerung der Begräbniskosten und bemerkten einleitend scherzweise, daß es gebrauchte Särge, die sich wie alle gebrauchten Sachen, wesentlich billiger im Preise stellen würden, noch nicht gibt. Das war ein Irrtum. Die Not der Zeit hat es tatsächlich schon zustande gebracht, daß auch dieses letzte Möbelstück, das bisher den Vorzug hatte, nur nagelneu verwendet zu werden, schon im gebrauchten Zustande im Verkehr ist. Verschiedene Stadtverwaltungen stellen bereits, um die Beisetzungskosten für Minderbemittelte nach Möglichkeit zu ermäßigen, Särge leihweise zur Verfügung. Sie sollen dazu dienen, primitive Särge, deren man sich jetzt in vielen Fällen aus finanziellen Rücksichten bedienen muß, zu verdecken. Kürzlich hat auch die Stadt Angermünde die Anschaffung eines solchen Leihsarges, der eine gute Ausstattung erhält, beschlossen.

Neuköllnische Zeitung, Montag, 8.1.1923
Frauen im höheren Justizdienst. Durch eine Verfügung des preußischen Justizministers vom Jahre 1921 war angeordnet worden, daß auch weibliche Personen die beiden juristischen Prüfungen ablegen können. Es blieb ihnen aber noch versagt, die Dienstgeschäfte eines Richters oder Staatsanwalts wahrzunehmen oder einen Rechtsanwalt vor Gericht zu vertreten. Nunmehr ist ihnen durch eine neue Verfügung des preußischen Justizministers auch dieser Wirkungskreis erschlossen worden. Der hierdurch geschaffene Rechtszustand entspricht einem Reichsgesetz vom Juli des vergangenen Jahres, wodurch die Fähigkeit zum Richteramt auch von Frauen erworben werden kann.

Neuköllner Tageblatt, Dienstag, 9.1.1923
Aushebung eines Schlemmerclubs. In der Nacht zum Sonntag veranstaltete die Kriminalpolizei ein Razzia in den Lokalen des Zentrums. So wurde die Potpourri=Bühne in der Bellevue=Straße ausgehoben, in der sich allnächtlich Ausländer mit allerhand dunklen Herren und Damen ein Stelldichein gaben, das stets bis zum hellen Vormittag dauerte. Das ganze nannte sich »Klub Bellevue«. Im ganzen wurden dort 120 Menschen angetroffen, unter ihnen 70 Ausländer. Die Preise des Klubs waren »angemessen«, eine Flasche Sekt kostete 80 000 M.

Neuköllnische Zeitung, Freitag, 19.1.1923
Zu der geplanten Aufteilung des Tempelhofer Feldes hat das Bezirks­amt Neukölln erneut Stellung genommen. Es vertritt nach wie vor mit aller Entschiedenheit den Standpunkt, daß im Interesse der Neuköllner Einwohnerschaft auf die Erhaltung eines mindestens 500 Meter breiten Grünstreifens längs der Oderstraße mit allen Mitteln hinzuwirken ist. Hier bietet sich geeignete Gelegenheit, die letzthin mit allem Nachdruck erhobene Forderung auf Schaffung neuer Spiel= und Sportplätze unter Fortfall wesentlicher Schwierigkeiten erfüllt zu sehen. Der Magistrat soll ersucht werden, sich unter allen Umständen gegen die Verwirklichung des von fiskalischer Seite aufgestellten Güterbahnprojektes an der Neuköllner Bezirksgrenze auszusprechen.

Neuköllner Tageblatt, Dienstag, 16. 1. 1923
Gemütlich! In einer der letzten Nächte wird ein Herr in der Invalidenstraße von einem anderen freundlich angesprochen und dann gefragt: »Haben Sie keinen Polizeibeamten gesehen?« Als der Gesagte jovial antwortet: »Na! Da werden Sie wohl jetzt kein Glück haben!« bittet der Herr höflichst um Brieftasche und Uhr. Nach Aushändigung der Wertsachen empfahl sich der Räuber mit Worten des Dankes. Er wird sehr enttäuscht gewesen sein. Die Brieftasche war fast leer und die alte Uhr nicht viel wert. Der Gauner war ein besser gekleidetes Individuum.

Die Transkription der Zeitungstexte wurde mit Fehlern in der Rechtschreibung aus den Originalen von 1922 übernommen. Die Originale befinden sich in der Zentral- und Landesbibliothek, Breite Straße 30, 10178 Berlin.

Der lange Weg zum Richteramt

Frauen erkämpfen sich den Zugang zu juristischen Berufen

Erst seit Anfang des 20. Jahrhunderts waren Frauen zum Jurastudium zugelassen, eine Errungenschaft, die sie sich mühsam erkämpft hatten. Allerdings konnten sie das Studium lediglich mit einer Promotion abschließen, nicht aber mit dem ersten Staatsexamen, der Voraussetzung für die Zulassung zum Referendariat, und dem zweiten Staatsexamen, der Eintrittskarte für die Zulassung in den juristischen Berufen.
Mit der Verleihung des Frauenwahlrechts im Jahr 1918 wurde ein Meilenstein auf dem Weg zur Chancengleichheit gelegt. Mit dem Reichswahlgesetz erhielten Frauen das aktive und passive Wahlrecht. Am 19. Januar 1919 konnten Frauen zum ersten Mal wählen und gewählt werden. Die politische Partizipation war Frauen nunmehr eröffnet. Auf diese Bestimmungen konnten sie sich berufen und eine geschlechtergerechte Auslegung von Gesetzen fordern.
Was dann folgte, war eine Diskussion mit heftigem Gegenwind von allen Seiten. Es wurden Ansichten geäußert, die in aller Deutlichkeit zeigen, welche Vorstellungen seinerzeit vorherrschten: »Die Unterstellung des Mannes unter den Willen und den Urteilsspruch einer Frau widerspricht der Stellung, welche die Natur dem Manne gegenüber der Frau angewiesen hat und wie sie durch die Verschiedenheit des Geschlechts begründet ist«.
Am 5. Mai 1919, erließ der damalige preußische Justizminister eine Verfügung »über die Zulassung weiblicher Personen zur ersten juristischen Prüfung«. Bis sie Berufe der Rechtspflege etwa Richterin oder Staatsanwältin ergreifen konnten, dauerte es aber noch bis 1922.
Erst nachdem sich die weiblichen Abgeordneten des Reichstags der Weimarer Republik zusammengetan und einen interfraktionellen Antrag, Frauen zu den juristischen Berufen zuzulassen, gestellt hatten, legte am 25. April 1922 der Reichsminister der Justiz Gustav Radbruch dem Reichstag den Entwurf eines Gesetzes über die Zulassung von Frauen zu den Ämtern und Berufen der Rechtspflege vor. Dieser wurde im Reichstag am 1. Juli 1922 angenommen und am 11. Juli 1922 verkündet.


Gleich zu Beginn des Gesetzes im Artikel I wird das ausgesprochen, was Männern seit jeher zuerkannt wurde. Mit diesen zehn Wörtern konnten Frauen nunmehr zum Referendariat und zum 2. Staatsexamen zugelassen werden. Die Zulassung zu den juristischen Berufen für Frauen war damit endlich eröffnet.

mr