Reise in das Berlin vor 125 Jahren

Erinnerungen an eine zumeist noch friedliche Vaterstadt

Herbert Friedrich Witzel hat das Programm seines kleinen Neuköllner »worttransport«-Verlags um eine geschichtlich hochinteressante Preziose bereichert. Im Rahmen seiner Recherchen zum im 19. Jahrhundert in Rixdorf lebenden und auf dem »Neuen Jacobi-Friedhof« begrabenen Philosophen und Bibelkritiker Bruno Bauer stieß er auf dessen Patenkind Agathe Nalli-Rutenberg. Die 1838 auf der Fischerbrücke geborene Schriftstellerin ist die Tochter von Adolf Friedrich Rutenberg, eines Freundes von Karl Marx und Chefredakteur der »National Zeitung«. Sie war Lehrerin in Schöneberg, reiste viel durch Europa und heiratete in Italien den Römer Fausto Nalli, blieb ihrer geliebten Heimatstadt aber stets treu verbunden.
1907 schrieb sie erstmals ihre Erinnerungen an und als »Mein liebes altes Berlin« auf, 1912 folgte die verbesserte Neu-Ausgabe »Das Alte Berlin«, die nun, von Witzel aus der Frakturschrift übertragen, sanft redigiert und klug bebildert, in seiner »A&O-Reihe« (Aufgefrischte Originaltexte) und natürlich als »Buch ohne Eselsohren« eine bibliophile Wiedergeburt erlebt.
Wie schon Heimatforscher Ernst Friedel in seinem Geleitwort über dieses »fesselnde, erheiternde, belehrende Werk« schreibt, schafft es die Autorin, »wie in einem weiblichen Kaleidoskop« zu vermitteln, wie im alten Berlin gelacht und geliebt, gedacht und gedichtet wurde, vor allem aber, wie »diese kleine Welt des damals, wenn auch haupt- und residenzstädtischen, doch noch so unendlich kleinbürgerlichen Berlins« ab den 1830er-Jahren von seinen Bewohnern erlebt wurde.
Entlang ihrer eigenen Familiengeschichte wird oft auch noch tiefer in die Stadtgeschichte geblickt, so etwa in Geschichten über die »Franzosenzeit« oder legendenumwobene Bauten und »Spukhäuser«.
Was für eine grüne Gartenstadt die spätere elektrifizierte Millionenmetropole einst war, scheint heute kaum mehr vorstellbar. Ob Schwimmanstalten, Gartenlokale, Kaffeeküchen und dörfliche Sommerfrischen, die Revolution von 1848, welche Persönlichkeiten das geistige und politische Leben prägten, wie gegessen, geheizt und beleuchtet wurde – all das machen diese anek­dotenreichen Erinnerungen, auch dank der von Witzel hinzugefügten Fotos und Illustrationen, wieder lebendig. Mit Schilderungen über den Turnunterricht in der Hasenheide oder Bruno Bauers ländliches Refugium findet auch Rixdorf – »Neukölln« gab es ja noch nicht – seinen Platz.
Ein begeisterndes Buch für alle Berlin- und Geschichtsliebhaber, das das Leben in der »guten alten« Zeit spür- und plastisch nacherlebbar werden und einen nicht ganz ohne Wehmut bleiben lässt.

hlb
»Agathas altes Berlin«, 204 Seiten, 20 €, worttransport.de Verlag, Email: witzels-worttransport@web.de