Die vielen Saiten von Thiago

Geigenbau, Sprache, Literatur und vieles mehr

Auf der Schillerpromenade war oft ein Mann zu sehen, der langsam entlangwanderte und dem eine alte Hündin folgte. Er ging langsam, damit sie hinterher kam. Sie war eine waschechte Brasilianerin, er ist es auch. Aufgewachsen ganz im Süden von Brasilien, »in Deutschland sagt man wohl in der Pampa«, meint Thiago und lacht.

Thiago schaut nach vorn.   Foto: privat

Später zog es ihn nach Porto Alegre, er studierte Literatur, Sprachwissenschaften und Übersetzung. 2009 war er zum ersten Mal für einen Studentenaustausch in Deutschland. Ein Jahr später bekam er ein Stipendium aus Brasilien, um hier in Editionswissenschaften über die Werke aus dem Nachlass von Franz Kafka zu promovieren. Er brach ab und ärgert sich bis heute nicht darüber. Er wollte keine Karriere als Professor. Danach hatte er überhaupt keine Lust, sich mit intellektuellen Themen zu beschäftigen und widmete sich einer seiner anderen Leidenschaften – der Musik.
Er spielt Gitarre, doch die Geige als Instrument interessierte ihn sehr, er nahm Unterricht, kaufte eine gute, aber kaputte Geige. Und fing an, sich intensiv mit dem Geigenbau zu beschäftigen, um sie zu reparieren. Durch Zufall fand er einen Geigenbauer, der seine Werkstatt auflösen musste. Dieser lehrte ihn sehr viel – sie sind noch heute in Kontakt. Ein Schatz für Thiago, der vor allem die Lackierung alter Geigen spannend findet. Er experimentiert mit den Lacken, entwickelt sogar einen eigenen Naturlack und versucht, sogar den Blutlack aus dem Film »die rote Violine« herzustellen, was allerdings scheitert. Er repariert viele Geigen, aber auch Bratschen und Celli, bei denen ein Geigenbauer vielleicht sagen würde, es lohnt nicht mehr. Doch das ist ihm egal, ihm geht es darum, das Handwerk zu üben und alte Instrumente wieder nutzbar zu machen und ihnen so ein neues Leben zu geben.
2020 fing er an zu schreiben, doch nicht auf Portugiesisch – er will in fremden Sprachen schreiben. Außer Portugiesisch, spricht er Englisch, Deutsch, Spanisch und Französisch, dazu ein bisschen Japanisch und Italienisch, die Auswahl ist also groß.
Eigentlich wollte er immer Musik studieren, das klappte nicht, doch für Thiago war das Literaturstudium auch wie ein Kunststudium. Und nun mit einem »festen Job« im Magazin einer Bibliothek geht er in seiner freien Zeit seinen geliebten Sprachen, der Musik, dem Film und der Literatur nach, und dies mit einer Intensität, die kommt und geht und wiederkommt. Und Thiago wandert immer noch auf der Schillerpromenade, doch nun ohne die Hündin und schnelleren Schrittes.

jr