Klassenjustiz

Buchrezension von Anne Seeck

»Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich« heißt das 270-seitige Buch des promovierten Juristen und Redakteurs der Süddeutschen Zeitung Ronen Steinke. Der Autor zeigt systematische Ungerechtigkeiten im Strafsystem auf. Einkommensarme Menschen, die schwarzfahren oder einen kleinen Ladendiebstahl begehen, werden hart bestraft. Verfahren wegen Wirtschaftskriminalität werden dagegen eingestellt oder es wird milde geurteilt. Ronen Steinke recherchierte bei Staatsanwält*innen, Richter*innen, Anwält*innen und Verurteilten. Dabei geht der Autor in verschiedenen Kapiteln die einzelnen Stationen der rechtlichen Verfahren durch. Er beschreibt die Rolle der Anwält*innen, untersucht Urteile (zum Beispiel die Bedeutung verhängter Geldstrafen) und analysiert die Auswirkungen der U-Haft und von Gefängnisaufenthalten. Nach den Kapiteln zur Wirtschafts- und zur Elendskriminalität legt er schließlich Ideen vor, wie es gerechter zugehen könnte.
Das Erschütternde des Buches sind die Fallbeschreibungen. So hatte ein obdachloser Litauer in Bayern einen Diebstahl begangen. Es handelte sich um Zigarillos für 8,38 Euro sowie zwei Dosen Bier der Marke Faxe für weitere 3,98 Euro. Die bayrische Justiz ließ ihn mit einem Haftbefehl bundesweit suchen. Die Polizei in Berlin steckte ihn in U-Haft. Ein anderer Fall: Der Obdachlose Christoph W. ist froh, im Gefängnis zu sein. »Immerhin, hier habe ich Ruhe«, sagt der Obdachlose. Hier kann er nicht erfrieren und bekommt Essen. »Was ist eigentlich in einer Gesellschaft los, in der das Gefängnis zum Zufluchtsort wird?«, fragt Ronen Steinke.
Im Haus A der Justizvollzugsanstalt Plötzensee sitzen Schuldner ihre Geldstrafen ab, jeder Fünfte wegen Schwarzfahrens. Hier sammeln sich fast alle Zahlungsunfähigen aus Berlin. Der Gefängnisdirektor der JVA Plötzensee ist empört: »Die Elenden der Stadt«, sagt er, »kippt man uns vor die Tür. Menschen, zu denen der Gesellschaft nichts mehr einfällt. Das Letzte, was einem noch einfällt, ist Strafe.«
Reiche kaufen sich dagegen frei. Ihre Anwälte liefern Materialschlachten, aus Bequemlichkeit zeigt sich das Gericht dann zu Geldauflagen bereit, die den Tätern gerade im Bereich der Wirtschaftskriminalität nicht weh tun. »Je größer der Konzern, desto lauter ist sein Lachen über diese Sümmchen«, resümiert der Autor. Er vergleicht: »Gefängnisstrafen wegen Schwarzfahrens, jährlich: 7.000. Gefängnis wegen Cum-ex-Milliardenbetrug: 1.« Ein empfehlenswertes Buch, aber: Neu ist die Klassenjustiz nicht.
Ronen Steinke: Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich. Die neue Klassenjustiz, Berlin 2022, 20 Euro