»Wie ein Stück Dreck«

Der Paragraph 218 muss dem Paragraphen 219a folgen

Im hohen Alter erzählte mir meine Mutter von der Erfahrung, die sie in jungen Jahren 1954 mit einem Schwangerschaftsabbruch machen musste. »Beim Engelmacher ging es schief, ich hatte Angst um mein Leben. Vater und ich sind so schnell wie möglich zu einem regulären Frauenarzt gefahren. Die Praxis hat mir geholfen, aber gut behandelt wurde ich nicht. Ich fühlte mich wie ein Stück Dreck.« Meine Mutter war sichtlich gerührt, als sie mir das sagte. »Ich habe es verkraftet, aber vergessen kann ich das nicht.«

Demonstration gegen den § 218 zum Schwangerschaftsabbruch.      Foto: Bundesarchiv

Damals konnte meine Mutter nur einmal in der Woche in einer Wäscherei arbeiten, statt ihrem Beruf als Stenotypistin nachzugehen, da ihr erster Sohn gerade sieben geworden war. Immerhin war dieser eine Tag eine Unterstützung für das Familieneinkommen, das Gros erwarb mein Vater bei den Stadtwerken.
Als 1975 die Kampagne »Weg mit dem Paragraphen 218 – Volks­entscheid« lief, war sie von Anfang an dabei und sammelte Unterschriften. Das Bundesverfassungsgericht hatte eine von der sozial-liberalen Koalition beschlossene Liberalisierung in Form der dreimonatigen »Fristenlösung« gekippt, da CDU/CSU geklagt hatten.
»So ein schreckliches Erlebnis wie 1954 wollte ich nie wieder haben. Das ist bestimmt bis heute für keine Frau eine leichte Entscheidung. Zum Glück gibt es nun ja Beratungsstellen.« 1956 brachte sie mich als ihren zweiten Sohn zur Welt. Sie lächelt: »Auf Dich hätte ich auch nicht verzichten wollen.«
Die Ampelkoalition will die Streichung des Paragraphen 219a auf den Weg bringen, ein längst überfälliger Schritt. Dann wird es Ärzten und Ärztinnen legal möglich sein, in ihrer Praxis offen darauf hinzuweisen, dass sie schwangeren Frauen helfen. Die Gießener Ärztin Kristina Hänel musste sich wegen eines Verstoßes gegen den 219a vor dem Oberlandesgericht Frankfurt am Main verantworten, ihre Revision gegen das erstinstanzliche Urteil wurde dort abgelehnt.
Noch bevor die neue Bundesregierung ihr Vorhaben zur Abschaffung in den Bundestag eingebracht hat, regt sich bereits der altbekannte Widerstand aus den Reihen der »Lebensschützer« und der Unionsparteien, es klingt nach Verfassungsklage.
Die Streichung des seit 150 Jahren geltenden Paragraphen 218 ist so überfällig wie die jetzt anvisierte Abschaffung von dessen Folge-Paragraphen. Die immer wieder stark auftretende Bewegung dafür lässt nicht nach und macht Druck.

th
Hintergrundinformationen der Bundeszentrale für Politische Bildung
https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/201776/1975-streit-um-straffreie-abtreibung-vor-dem-verfassungsgericht/