100 Jahre Märchenwiese

Von der Hermannstraße in die freie Körperkultur

Vor langer Zeit, genauer 1921, entdeckte eine Gruppe Wanderer einen Wiesenstreifen voller Blumen am Ufer eines Sees in Brandenburg – sie nannten diesen verwunschenen Ort »Märchenwiese«. Einer von ihnen war der Unternehmer Wilhelm Bartsch. Er kaufte das Areal mit eigenen Mitteln und gründete 1928 den »Freilichtbund Märchenwiese«. Nicht untypisch für diese Zeit. Zu Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelte sich eine bürgerlich elitäre, meist illegale Nacktkultur.


Auf dem Gelände konnte, neben einer Vereins- oder Besuchergebühr, auch gegen Geld gezeltet oder eine kleine Hütte aufgestellt sowie eine Bootsanlegestelle gemietet werden. Immer mehr Menschen kamen, was auch mit der guten Anbindung an Berlin zu tun hatte – so gab es zum Beispiel eine Direktverbindung vom der Haltestelle Hermannstraße. Und doch ist es keinesfalls selbstverständlich, dass dieses Gelände heute, nach 100 Jahren, noch immer nach gleichen Idealen genutzt werden kann. Eine Geschichte mehrerer Staatsformen und der Kampf um den Erhalt das Geländes liegt hinter den heutigen Bewohnern.
Bereits 1933 entzieht der Göring-Erlass mit dem Verbot der Freikörperkultur der Gemeinschaft die rechtliche Grundlage.
Bartsch tritt dafür ein, den Erlass zurückzunehmen, was zur Folge hat, dass er in Schutzhaft genommen wird. Dann holt ihn der Krieg ein. Die Nazis kriminalisieren die Freikörperkultur (FKK) anfänglich als liberale und bolschewikische Scheußlichkeit. Es beginnt eine Jagd auf die Nacktbader, diese entwerfen ein ausgekügeltes Frühwarnsystem; wenn die Polizei im Anmarsch ist, erschallt der Ruf »Wasser kocht« und alle legen schnellstens eine konforme Badekleidung an.
Doch nachdem völkische FKK-Anhänger der Naziführung »weismachen« konnten, Naturalismus sei der vollkommenste Ausdruck germanischer Selbstzucht und fördere sogar rassisch einwandfreie Paarungen, drehen die NS-Behörden den Spieß um und verleiben sich die FKK-Bewegung ideologisch ein.
Nach 1945 liegt das Gelände in der sowjetischen Besatzungszone, ab 1949 in der DDR. Nach seiner Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft nimmt Bartsch 1947 seine Arbeit auf dem Gelände wieder auf. 1953 wird Bartsch die Verfügung über den Besitz entzogen und an die Gemeindeverwaltung gegeben. Die Gemeinschaft schließt einen Pachtvertrag ab, es bleibt allerdings kompliziert. 1990 gründet sich dann der heutige Verein, und nach einem langwierigem Hin und Her mit den Erben kaufen die Mitglieder das Gelände 2005 als Genossenschaft. Diese bewegende Geschichte zeugt von Erfindergeist und einer großen Sozialität, so wurden im Krieg Menschen versteckt oder überlebten ihn dort.
Einige Hütten sind aus ausrangierten Obstkisten oder alten DDR-Schultischen gebaut. Die anfänglichen Gemeinschaftsplumpstoiletten erregen Heiterkeit – jede Familie hatte ihre eigene Rolle Klopapier mit Namen versehen darin aufgehängt.
Sie haben gut daran getan, dafür zu kämpfen, es ist ein Ort von großer Freiheit und Individualität, aber auch der Versuch, sich gemeinschaftlich zu engagieren, es gibt Arbeitseinsätze und jeder hat so seine Aufgaben. Eine Regel ist bis heute Pflicht – Baden nur nackt!

jr