Fred Haase fühlt sich olfaktorisch herausgefordert
Mein Rückflug von Rabat nach Berlin. Nach vielen engen Kontakten mit Mitreisenden zwänge ich mich im Flieger auf Sitz 13b. So, nun entspannen und durchatmen.
Die Frau neben mir trägt ein sportliches Outfit, hat ihre Flicked-out-Bob-Frisur voluminös mit Haarspray modelliert. Ich präsumiere: Wella oder Taft. Der Herr am Fenster, von stattlicher Leibesfülle, hat mit chirurgischer Präzision Aftershave aufgetragen, nicht sparsam, nein, entschlossen! Ein heroischer Versuch, Rasurbrand zu verhindern. Das Orangenblüten-Duschgel, das er vermutlich morgens auftrug, hat sich nahezu verflüchtigt, einen Hauch wittere ich noch. Allerdings dominiert die Geruchsallianz aus Körperausdünstung und seiner wahrscheinlich signifikanten Vorliebe für Knoblauch hemmungslos. So ist das Bouquet, das meine sensorische Innervation verarbeiten muss, herausfordernd: fruchtig, streng, taftig, würzig
Ich, mittig sitzend, bin dem olfaktorischen Ungemach schutzlos ausgeliefert. Nun versuche ich willensstark meine Nervenzellen in der Nasenhaupthöhle zu manipulieren, beginne mit geschlossenen Augen eine Zeitreise zum Bazar von Rabat. Dort ist der Duft eine sanfte Umarmung, das intensive Aroma von exotischen Gewürzen, Zimt, Kurkuma und Kreuzkümmel, von Lederwaren, den Teppichen sowie duftenden Holzarten wie Zedernholz mischt sich mit dem Geruch von Minztee. Herrlich, die unterschiedlichen Duftmoleküle, die sanft in der Luft schweben. Tief inhalierend bin ich in Trance, meine Seele tanzt, ich lächele abwesend. Aufgrund der mentalen Anstrengung gelingt es mir, diesen Flug ohne Nasenkatarrh zu bewältigen.
Nach überstandener Landung und vielen Kilometern Laufleistung im BER, stehe ich schwer atmend mit meinem Reisegepäck an einer Bushaltestelle und freue mich tatsächlich erstmalig über Berliner Luft. Es ist ein heißer Tag, ich bin erleichtert, als ich später endlich Platz in der U-Bahn nehme.
Nur Minuten später verspüre ich erneut Hilferufe meines Geruchsorganes. Mir gegenüber sitzen zwei Männer mittleren Alters in Sportkleidung. Ihr Outfit, Irritationen in Optik, gestreifte T-Shirts, kurze Adidas-Sporthosen, sehr behaarte Beine, Sandalen, weiße Baumwollstrümpfe mit blutroten Streifen am Bund. Mein irritierender Gedankenblitz von Käsefondue wird ausgelöst durch eine dominante Geruchswolke, Sportkleidung und Socken der Sportskanonen sind noch extrem atmungsaktiv.
Ein paar Sitze weiter finde ich vermeintlichen Schutz, bis eine Gruppe junger Teenager in den Waggon stürmt, kichernd, telefonierend, parfümiert mit einem toxischen Cocktail aus Lady Million, Adidas und Benetton. Meine Nasenhaare beben. Doch zum Glück bleibe ich nur kurze Zeit dieser duftenden Apokalypse ausgesetzt, da sie an der nächsten Station aussteigen.
Eine ältere Dame betritt den Waggon, ich erhebe mich, biete galant meinen Platz an. Sie lächelt. Ein Lufthauch streift mich – Eau de Cologne! Erinnerungen an Oma Frieda überfluten mich. Weihnachten. XXL-Flaschen Kölnisch Wasser. Ich atme tief ein, ein wunderbarer Moment der Nostalgie. Leider sehr kurzlebig.
Es ergießt sich ein Schwall Fahrgäste in den übervollen Waggon, Sauerstoff wird zur fehlenden Ressource. Niemand kann mehr umfallen. Mein Riechorgan nimmt Kontakt mit den Synapsen meines Gehirns für Schwindel auf, denn neben mir steht unangemeldet und abstandslos ein muskulöser Handwerker mit Malerhose und Trägershirt. Er hält sich muskelbetont an einer Halteschlaufe fest. Mein Gesicht ist nun auf Nasenhöhe mit seiner imposant behaarten Achsel. Was hatte Oma Frieda immer gepredigt: Wichtig ist im Leben immer, den Braten zu riechen. Ich sehe nun, wie sich Schweiß unter seiner Achsel sammelt, um zeitnah und unkontrolliert als Schwall abzutropfen. Panik ergreift mich, ich drängele fluchtartig aus der U-Bahn.
Wenig später schließe ich mit Glücksgefühlen meine Haustür auf. Gerettet aus der Hölle der Deos, Rasierwasser, Duschgels und Parfüme. Die abgestandene Luft in der Wohnung lasse ich lustvoll aus den weit geöffneten Fenstern entweichen, um dann schwungvoll und pfeifend Badewasser einzulassen. Endlich, als ich glücklich und zufrieden im Fichtennadelbad liege, bretonische Arbeiterlieder singe und meiner Nase endlich Entspannung gönne, passiert es. Mein dicker, aber lieber Kater Da Vinci begibt sich schnurrend auf sein Katzenklo, welches am Fußende der Wanne steht. Aufgrund der Wiedersehensfreude habe ich ihm die doppelte Portion MjAMjAM-Katzenfutter gegönnt. Dadurch ist sein Verdauungstrakt freudig angeregt. Er schnurrt bei der Darmentleerung. Das Aroma von Katzenstuhlgang und Fichtennadelbad ist eine unglaubliche olfaktorische Herausforderung.
Verzweifelt frage ich mich, unterdrückt atmend, warum kann der Mensch nicht wie das Auge die Nase durch Nasenlider verschließen?