Neuköllner Alltägliches

Nachrichten aus Neuköllner Zeitungen vor 100 Jahren, bearbeitet von M. Rempe

Neuköllnische Zeitung, Mittwoch, 4.10.1922
Was kommt dort von der Höh? Der Dentist Moritz H. sollte gestern nachmittag in seiner Wohnung im Hause Cuvrystraße 12 verhaftet werden, da er noch ein Jahr Gefängnis wegen Diebstahls zu verbüßen hat. H. öffnete trotz wiederholten Klopfens nicht, sondern befestigte am Fensterkreuz einen Strick an dem er sich auf die Straße hinablassen wollte. Einer der Beamten, der vor dem Hause Posten stand, rief ihm aber zu, er möge ruhig wieder hinaufklettern, da an ein Entrinnen nicht zu denken sei. Darauf schwang sich H. auf ein Fenstersims des Nebenhauses und kletterte durch das offenstehende Fenster. Hier wurde er aber von drei Frauen, die in dem Zimmer anwesend waren, in Empfang genommen. Sie verprügelten ihn und übergaben ihn der Polizei.

Neuköllnische Zeitung, Donnerstag, 12.10.1922
Laßt euch begraben! Die württembergische Stadt Tuttlingen läßt Särge auf Vorrat anfertigen, damit ihre Einwohner sich noch preiswert begraben lassen können. Das ist auch das Beste, was man in dieser Zeit tun kann – singt doch schon Heinrich Heine: »Wenn du aber gar nichts hast, ach, so lasse dich begraben, denn ein Recht, ein Recht zum Leben, Lump, haben nur, die etwas haben.«

Neuköllnische Zeitung, Samstag, 21.10.1922
Die Zunahme von Selbstmorden und Selbstmordversuchen ist in Berlin in der letzten Zeit geradezu erschreckend. Besonders die Gasvergiftungen haben in bedenklicher Weise zugenommen. Rettungsstellen, Feuerwehr, Polizei und Aerzte haben nicht etwa täglich, sondern stündlich neue Fälle von Gasvergiftungen zu verzeichnen. Meist handelt es sich um notleidende Angehörige der Mittelschicht, den man jetzt mit grimmiger Ironie den »Stand ohne Mittel« nennt.

Neuköllner Tageblatt, Sonntag, 22.10.1922
Die Wunderlampe. In dem Geschäft „Metall=Gören in der Gaudystr. 28 erschien eine ältere Frau, um eine Petroleumlampe als Altmetall zu verkaufen. Als die Lampe auf ihren Metallwert hin untersucht wurde und aus dem Fuße der Lampe die zur Beschwerung dienenden Metallteile entfernt wurden, fielen aus dem freigelegten Boden 10 Goldstücke zu 20 M. Freudestrahlend verließ die Frau mit ihrem Goldschatz das Geschäft.

Neuköllner Tageblatt, Dienstag, 30.10.1922
Diktator Mussolini. Der König hat Mussolini mit der Bildung des Kabinetts betraut. Weitere Meldungen besagen, daß das Leben in Rom normal sei, Straßenbahnen und Automobile verkehren. Die Blätter rühmen den König wegen seiner Weigerung, das Dekret über den Belagerungszustand zu unterzeichnen. Die Faschisten sind gestern in die Räume des Blattes »Il Mondo« eingedrungen und haben das Lokal des »Paese« besetzt. In der Redaktion des Witzblattes »Monocolo« haben sie die Einrichtung zertrümmert und verbrannt. Der direkte Telefonverkehr war hier gestern abgeschnitten.

Neuköllnische Zeitung, Dienstag, 31.10.1922
Die Granate im Ofen. Der Kaufmann Hans Kruschke legte gestern abend in seiner Wohnung, Sprengelstraße 3, eine Granate, die er auf dem Tegeler Schießplatz gefunden hatte, zum Abschmelzen des Führungsringes in den Ofen. Dabei explodierte das Geschoß mit weithin hörbarem Knall. Kruschke wurde durch den ungeheuren Luftdruck gegen die Küchenwand geschleudert und erlitt schwere Verletzungen. Er wurde von Hausbewohnern besinnungslos aufgefunden und nach der nächsten Rettungsstelle gebracht. Der Kochherd und die Kücheneinrichtung wurden durch die Explosion vollständig zertrümmert.

Die Transkription der Zeitungstexte wurde mit Fehlern in der Rechtschreibung aus den Originalen von 1922 übernommen. Die Originale befinden sich in der Zentral- und Landesbibliothek, Breite Straße 30, 10178 Berlin.

Der Marsch auf Rom

Ein frecher Bluff bringt Mussolini an die Macht

Obwohl Italien zu den Siegermächten des Ersten Weltkriegs gehörte, rutschte es schon 1919 in eine tiefe Krise. Die Inflation galoppierte, die Arbeitslosigkeit war hoch, die Versorgung mit Lebensmitteln in den Großstädten unsicher, und die Finanzen waren durch die Kriegskosten zerrüttet.
Bei den Parlamentswahlen 1919 stieg der »Partito Socialista Italiano« mit einem an den russischen Bolschewiki orientierten Programm zur stärksten Partei auf und erhielt rund ein Drittel der Stimmen. Benito Mussolinis Faschisten – wegen ihres bevorzugten Stylings »Schwarzhemden« genannt – waren noch mit dem Aufbau ihrer Organisation beschäftigt. Die Angst vor einer linken Revolution trieb ihnen in den Folgejahren aber viele Mitglieder zu und sicherte ihnen Unterstützung bis weit ins liberale Bürgertum.

Parteiabzeichen.

Die Faschisten traten militärisch-autoritär und zugleich theatralisch auf und beriefen sich auf eine mythische, ruhmreiche Vergangenheit. Ihr Name war abgeleitet vom Wort »fascio«, einem antiken Herrschaftssymbol bestehend aus einem Rutenbündel, in dem ein Beil steckte. Mussolinis Anhänger grüßten einander mit erhobenem Arm, wie es angeblich die alten Römer getan hatten.
Im Oktober 1922 kündigte Mussolini an, seine Anhänger aus allen Teilen des Landes nach Rom marschieren zu lassen, um so den Machtwillen der faschistischen Partei zu demonstrieren.
Obwohl die Kolonnen von höchstens 30.000 schlecht ausgerüsteten »Schwarzhemden« ihren Marsch weit vor der Stadtgrenze stoppten, weil sie wussten, dass sie gegen die gut ausgerüsteten, regierungstreuen Truppen, die die Hauptstadt schützten, keine Chance hatten, gelang der Coup.
König Viktor Emanuel III weigerte sich, den Belagerungszustand auszurufen, der der Armee den sofortigen Einsatz gegen die Faschisten erlaubt hätte. Die amtierende Regierung unter Luigi Facta trat zurück. Der König beauftragte Mussolini mit der Bildung einer neuen Regierung. Am 31. Oktober 1922 marschierten die vor Rom kampierenden »Schwarzhemden« und noch einige Tausend zusätzliche Anhänger zum Königspalast auf dem Quirinal.
Schritt für Schritt höhl­ten sie die Institutionen der italienischen Demokratie aus, unterdrückten oppositionelle Parteien und schränkten deren Rechte ein. Ab 1924 überführte Mussolini seine Regierung in eine offene Diktatur.

mr