Neuköllner Alltägliches

Nachrichten aus Neuköllner Zeitungen vor 100 Jahren, bearbeitet von M. Rempe

Neuköllnische Zeitung, Freitag, 01.09.1922
Der Sturm auf den Käsestand. Auf dem Wochenmarkt am Maybachufer kam es gestern mittag zu Streitigkeiten zwischen Käuferinnen und dem Besitzer eines Käsestandes. Der Stand­inhaber, der Plünderungen befürchtete, benachrichtigte sofort die Schutzpolizei. Bevor die Beamten jedoch erschienen, stürmten die über die hohen Preise erregten Frauen den Verkaufs­tisch des Händlers und raubten seinen gesamten Warenvorrat. Inzwischen war die Schutzpolizei erschienen und sperrte den Markt ab. Die Beamten stellten nun eine sofortige Untersuchung nach dem gestohlenen Käse an. Um die Täter zu ermitteln, rochen sie unter allgemeinem Gelächter an allen Körben der Käuferinnen, die der Plünderung verdächtig erschienen. Auf diese Weise gelang es in ganz kurzer Zeit, die »duftende« Ware wieder abzunehmen. Verschiedene Frauen wurden polizeilich festgestellt.

Neuköllner Tageblatt, Dienstag, 05.09.1922
Der 500=Mark=Schein als Reklame! Die neuen, vom Volke Notizzettel genannten Geldscheine der Reichsbank über 500 Mark machen ihrem Namen alle Ehre. Erst wenige Wochen im Umlauf gleicht die Rückseite vieler Scheine bereits einem abgelegten Notizzettel. Ja nicht nur Notizen finden sich, sogar ganze Firmenstempel sind auf der Rückseite angebracht, so daß die Scheine dann auch Träger von Reklamen werden. Da aber die Reichsbank bereits hinsichtlich der 500=Mark=Scheine die beschränkte Haftpflicht ausgesprochen hat, so ist dieses Verfahren höchst bedenklich und kann für die leichtsinnigen Stempelbenutzer bedenkliche Schadenersatzforderungen von dritter Seite nach sich ziehen.

Neuköllnische Zeitung, Dienstag, 19.09.1922
Wenn der Kutscher einschläft. Durch eigene Unachtsamkeit fiel gestern der Kutscher Karl S. einem tödlichen Unfall zum Opfer. Auf dem Wege zwischen Britz und Buckow schlief er auf seinem mit Sand beladenen Wagen ein, fiel während der Fahrt herunter und kam so unglücklich unter die Räder, daß der Tod infolge der erlittenen Verletzungen sofort eintrat. Er wurde in die Leichenhalle überführt.

Neuköllner Tageblatt, Freitag, 22.09.1922
Eine kleine Weiße 13 Mark. Auch die »kühle Blonde« ist dem Zuge der Zeit gefolgt und sehr erheblich im Preise gestiegen. Sie scheint sogar das bayerische Bier noch überflügeln zu wollen. Die Weißbier=Brauereien haben neuerdings den Preis für einen Kasten »Kleine« auf 255 Mark erhöht. Daraufhin sah sich die Lokalkommission der Groß=Berliner Gastwirte veranlaßt, den Verkaufspreis für die Kleine Weiße auf 13 M., für die große Weiße auf 26 M. festzulegen.

Neuköllnische Zeitung, Mittwoch, 27.09.1922
Man hamstert Grabsteine! Ein Berliner Blatt will in bekannten Berliner Beerdigungsinstituten erfahren haben, daß ängstliche Leute jetzt sogar Särge und Grabsteine »hamstern«, wie sie bisher Eier, Mehl und Zucker gehamstert haben. Man kauft die unangenehmen Dinge für den späteren Gebrauch, in der nicht ganz unbegründeten Furcht, daß sie sonst dereinst für die trauernden Hinterbliebenen unerschwinglich werden könnten. Kostet doch selbst der schlichteste Sarg heute schon 2000 Mark, und Särge im Preise von 10 ää000, 20 000, 30 000 Mark sind durchaus keine Seltenheit. Der billigste Tod muß heute in Berlin mit nahezu 5000 Mark bezahlt werden; wer das nicht aufbringen kann, kann – sich begraben lassen, aber nur vom Magistrat, der ihm dann ein Armenbegräbnis gewährt. Die auf Vorrat gekauften Grabsteine lassen sich manche Leute schon bei Lebzeiten setzen, indem sie den Erben nur die Ausführung des Todesdatums überlassen. Man kann also auf Berliner Friedhöfen jetzt vielfach Grabsteine finden, die etwa so aussehen: »Hier ruht Gottlieb Schulze, geboren am 3.9.1867, gestorben am … 19 …« Das dazugehörige Grab ist einstweilen leer, und Gottlieb Schulze hamstert bis auf weiteres noch Eier, Mehl und Zucker.

Die Transkription der Zeitungstexte wurde mit Fehlern in der Rechtschreibung aus den Originalen von 1922 übernommen. Die Originale befinden sich in der Zentral- und Landesbibliothek, Breite Straße 30, 10178 Berlin.

Hilfsbanknoten

Geldscheine mit Verfallsdatum

Der drastische Werteverfall der Mark und der daraus resultierende Bedarf an immer neuen Banknoten führte dazu, dass die Reichsbank im Sommer 1922 in kürzester Zeit eine Hilfsbanknote über 500 Mark herstellen ließ.


Die auf Buchdruckschnellpressen und Rotationsmaschinen als Massendrucksachen hergestellten Noten konnten naturgemäß in keiner Weise den Ansprüchen genügen, die an gute Zahlungsmittel gestellt werden. Die Banknote wurde einseitig, im gewöhnlichen schwarzen Buchdruck ohne irgendwelche drucktechnischen Sicherungsmittel hergestellt. Das Wasserzeichenpapier mit farbigem Stoffauflauf und Faserstreifen war die einzige Sicherung gegen Fälschungen. Ganz unüblich für Reichsbanknoten tragen diese Scheine in den meisten Fällen einen Hinweis, daß sie ab einem bestimmten Datum aufgerufen, das heißt ungültig werden können.
Das »Hamburger Fremdenblatt« schrieb am 15. August 1922: »War es nötig, der Welt schon durch die äussere Aufmachung zu zeigen, wie wertlos uns selbst unser Geld erscheint? Es ist, als sollte mit der Herstellung dieser Banknote ein Billigkeitsrekord in der Fabrikation eines Geldmittels aufgestellt werden. Jeder kleine Drucker kann diese Banknote, wenn er das Papier hat, herstellen, so wenig Wert ist auf die Ausstattung der Banknote verwendet worden. Die Rückseite ist sogar unbedruckt, und in Ermangelung eines anderen Blattes kann man sie also für Notizen verwenden. So hat denn das Ausland den erfreulichen Eindruck, dass in Deutschland einseitig bedruckte Notizblätter – auch Reichsbanknoten sein können.«
Im Laufe des nächsten Jahres sollte noch so manche Banknote in dieser einfachen Gestaltung folgen.

mr