Neuköllner Alltägliches

Nachrichten aus Neuköllner Zeitungen vor 100 Jahren, bearbeitet von M. Rempe

Neuköllner Tageblatt
Freitag, 10.2.1922
Ueberfahren und beraubt.
Von einem Auto überfahren und erheblich verletzt wurden auf dem Hermannplatz der Kaufmann Arthur Eiselt, Jahnstraße 19 wohnhaft, und seine Braut Gertrud Litzmann, Herrfurthplatz 5 wohnhaft. Als die Verletzten ihre umhergestreuten Sachen zusammensuchen wollten, hatten schon Augenzeugen des Unfalls eine Handtasche mit verschiedenem Inhalt, eine Damenuhr, eine kleine Brieftasche mit 135 Mark u. a. Entwendet. Die Bestohlenen haben dadurch einen Schaden von 3000 Mk erlitten.

Neuköllnische Zeitung
Samstag, 12.2.1922
Die aufgehobene Verlobung.
In einer Stadt des besetzten Gebietes werden gegenwärtig die folgenden im Zeitraum von etwa 14 Tagen erschienen Zeitungsanzeigen viel belacht. Kurz vor Weihnachten brachte das Ortsblatt eine Ankündigung mit diesen Worten: »Als Verlobte empfehlen sich: Erna Pflanz, Direktrice – Gottfried Ebersbacher, städtischer Beamter.« An dieser Verlobung nahm niemand Anstoß. Auch die Standesbezeichnung störte niemand. Warum sollte ein städtischer Beamter nicht eine Direktrice freien? Warum sollte sich eine Direktrice nicht mit einem städtischen Beamten verloben? Kurz nach Neujahr, vielleicht gar noch im alten Jahr, schien aber ein Zwist im Lager der Verlobten ausgebrochen zu sein: dieselbe Zeitung brachte folgende Entlobung und – Enthüllung: »Meine Verlobung mit der Ladnerin Erna Pflanz erkläre ich für aufgehoben. Gottfried Ebersbacher, städtischer Beamter.« Und unmittelbar darunter: »Meine Verlobung mit dem Latrinenreiniger Gottfried Ebersbacher habe ich gelöst. Erna Pflanz, Direktrice.« Wie rasch sich Gefühle und Berufe ändern!…

Neuköllner Tageblatt
Dienstag, 21.2.1922
Der Kampf um das Tempelhofer Feld.
Nachdem der Ausschuß für Leibesübungen die Anlage eines Spiel= und Sportplatzes auf dem Tempelhofer Felde grundsätzlich gutgeheißen hat, sind vom Bezirksamt Neukölln die diesbezüglichen Verhandlungen mit den maßgebenden Stellen, insbesondere auch mit den Bezirksämtern Kreuzberg und Tempelhof wegen der praktischen Verwertung das zu erwerbenden Geländes eingeleitet worden. Inzwischen sind, wie bereits berichtet, Absichten laut geworden, die eine anderweitige Verwendung des östlichen Tempelhofer Feldes zum Gegenstand haben und das von der Stadtgemeinde geplante Projekt zu vereiteln drohen. Im Interesse der für die Neuköllner Bevölkerung dringend notwendigen Bereitstellung ausgedehnter Freiflächen wird das Bezirksamt Neukölln nach wie vor alles daran setzten, um das umstrittene Gelände gesundheitsfördenden Zielen nutzbar zu machen.

Neuköllnische Zeitung
Montag, 28.2.1922
Gegen die Wahl Dr. Löwensteins zum Stadtrat des Bezirks 14.
Die Arbeitsgemeinschaft der unpolitisch=christlichen Elternbeiratsmitglieder des Bezirks 14 von Groß=Berlin hat einen mit Tausenden von Unterschriften versehenen Protest gegen die Wahl Dr. Löwensteins zum Stadtrat des Bezirks 14 dem Herrn Oberpräsidenten überreichen lassen. Bei dieser Gelegenheit machte der Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft mündlich noch besonders auf die große Erregung in den christlichen Elternkreisen aufmerksam. 85 Prozent der Eltern im Bezirk 14 seien für die Erhaltung des Religionsunterrichts in den Schulen. Sie könnten sich nicht widerspruchslos damit einverstanden erklären, daß ein Dissident und Nichtfachmann oberster Leiter dieser Schulen werden solle, weil die politische Mehrheit der Linksparteien der Bezirksversammlung des Bezirks 14 die Wahl Dr. Löwensteins durchgesetzt habe.

Die Transkription der Zeitungstexte wurde mit Fehlern in der Rechtschreibung aus den Originalen von 1922 übernommen. Die Originale befinden sich in der Zentral- und Landesbibliothek,
Breite Straße 30, 10178 Berlin.

Kurt Löwenstein

Wegbereiter einer neuen Pädagogik

Kurt Löwenstein 1930 gezeichnet von Emil Stumpp (1886-1941).

Kurt Löwenstein zählt zu den bedeutensten Pädagogen und Bildungspolitikern der Weimarer Republik. Als Stadtrat für Volksbildung in Berlin-Neukölln war er mit Fritz Karsen unter anderem an der Umwandlung des Kaiser-Friedrich Realgymnasiums in eine Einheitsschule beteiligt. Zwischen 1920 und 1933 gehörte er dem Reichstag an, bis 1922 für die USPD, deren führender Bildungspolitiker er wurde, danach als Abgeordneter der wiedervereinig­ten SPD.
Löwenstein versuchte, grundlegend mit den bisherigen obrigkeitsstaatlichen Bildungskonzeptionen zu brechen. Ziel war die Einheitsschule mit Abschlüssen bis zum Abitur, eine ihren Fähigkeiten entsprechende Teilhabe von Arbeiterkindern an Bildung und Qualifikation und insbesondere die Fernhaltung der Kirchen aus der Schule. Im von ihm inspirierten Schulprogramm der USPD heißt es: »Das Ziel sozialistischen Erziehungswesens ist die Befreiung der Gesamtheit des Proletariats aus geistiger Bevormundung und Unterdrückung, nicht der Aufstieg einzelner begabter Proletarierkinder.«
Mit der Berufung zum Neuköllner Bildungsstadtrat im Jahre 1921 machte er einen wichtigen Schritt bei der Verwirklichung seiner Ideale. Wesentliche soziale Maßnahmen wie einkommensabhängige Schulgelder, Ausweitung der Schulspeisung, Einrichtung von Abiturklassen an Volksschulen oder Arbeiter-Abiturientenkurse gehen auf sein Engagement zurück.
Neben seiner Arbeit in Neukölln engagierte er sich auf Reichs­ebene für die Schaffung einer freizeitpädagogischen Bewegung und legte den Grundstein für die »Reichsarbeitsgemeinschaft der Kinderfreunde«. Deren Markenzeichen waren die Kinderrepubliken der »roten Falken«, große Zeltlager, an denen zwischen 1927 und 1932 67.000 Kinder teilnahmen. Skandale erregte nicht zuletzt die damals als verrucht geltende Ko­edukation, also: Jungs und Mädchen verbrachten gemeinsam ihre Ferien­freizeiten.
Seine sozialistischen Reformideen stießen bereits Anfang der 1920er-Jahre auf erbitterten Widerstand der rechten und konservativen Kräfte. Ebenso früh traf ihn der Hass der Nationalsozialisten, die in der Nacht vor dem Reichstagsbrand in seine Neuköllner Wohnung eindrangen und diese verwüsteten. Löwenstein konnte entkommen und floh zunächst in die Tschechoslowakei, dann nach Frankreich. In Paris erlag er 1939 einem Herzinfarkt.

mr