Neuköllner Alltägliches

Nachrichten aus Neuköllner Zeitungen vor 100 Jahren, bearbeitet von M. Rempe

Neuköllner Tageblatt, Dienstag, 3.1.1922
Der entführte Damenhut. Herr Sturm ist ein lockerer Gesell, der sich mitunter recht eigenartige Späße erlaubt, wobei er auch das schöne Geschlecht nicht verschont. So riß er am vergangenen Sonnabend nachmittag in der Hermannstraße in wildem Ungestüm einer Dame einen grünen Hut mit rotbraunem Bande vom Kopfe, wirbelte ihn eine zeitlang in der Luft herum und ließ ihn dann auf das Verdeck eines in Richtung Hermannplatz fahrenden Straßenbahnwagens fallen. In der Nähe der Steinmetzstraße wehte er den Hut auf die Straße und dort soll ein Knabe den letzteren eingefangen haben. Der Finder wird um Abgabe an Kulick, Hermannstr. 164=65 gebeten.

Neuköllnische Zeitung, Samstag, 7.1.1922
Celly de Rheydt vor der Strafkammer. Die Verhandlung gegen die bekannte Tänzerin Celly de Reydt, die vor einigen Wochen wegen Verhandlungsunfähigkeit der Angeklagten abgebrochen werden mußte, findet nunmehr am Dienstag nächster Woche vor der 8. Strafkammer am Landgericht I statt. Es sind mehrere Tage hierfür angesetzt. Bekanntlich hat Celly de Rheydt beantragt, ihre Schönheitstänze, die als sogenannte Nackttänze vielfach der Kritik ausgesetzt waren, dem Gerichtshof vorführen zu dürfen. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird dem Antrage stattgegeben werden. Es soll jedoch erst in der Hauptverhandlung darüber Beschluß ergehen, ob die Tanzvorführungen im Kriminalgricht oder an einem anderen Orte dem Gerichtshof vorzuführen sind.

Neuköllner Tageblatt, Dienstag, 17.1.1922
Der vergangene Sonntag galt dem Ski= und Rodelsport. Prächtiges Wetter begünstigte diesen gesunden Sport noch ganz besonders. Wenn trotzdem in diesen Tagen nicht in dem Ausmaß wie früher im Grunewald, auf= und an den Müggelbergen, am Fichtelberg in Steglitz, auf den Rehbergen u. a. Stellen gerodelt wurde, so lag dies nicht allein an den erhöhten Fahrpreisen, sondern auch vielfach daran, daß heute Schneeschuhe, Rodelschlitten usw. so enorm im Preise gestiegen sind, daß nur »reiche« Leute noch imstande sind, Neuanschaffungen zu machen. Kinderreiche Familien sind heute außerstande, neben dem hohen Schulgeld, Lebensunterhaltungskosten, Fahrgeldern usw. auch noch teure Schlitten usw. anzuschaffen. Auch auf Sport muß schließlich die deutsche Jugend verzichten.

Neuköllnische Zeitung, Mittwoch, 18.1.1922
Von der Seidenzucht zum Brennholz. Die vom Alten Fritz zur Hebung der Seidenzucht seinerzeit angelegte Maulbeerbaumpflanzung am Südabhange der Götzer Berge bei Potsdam ist jetzt der Abholzung verfallen. Nachdem die Maulbeerbaumanlagen ihrem Zwecke entzogen waren, verkümmerten sie. Die Bäume vermorschten und jetzt werden sie auf Beschluß der Gemeindevertreter als Brennholz an die Einwohner versteigert. Dabei brachten je fünf Bäume durchschnittlich 50 Mk.

Neuköllner Tageblatt, Freitag, 20.1.1922
Einbruch während einer Beerdigung. In das Zigarrengeschäft von Kegel, Hobrechtstraße 8, wurde Mittwoch nachmittag ein Einbruch verübt. Der Inhaber dieses Geschäfts war, wie erinnerlich, im vorigen Jahre das Opfer eines Raubmordversuchs, an dessen Folgen er längere Zeit im Krankenhaus darniederlag. Auch nach seiner Entlassung kränkelte er weiter und die erhaltenen Wunden dürften zu seinem vor wenigen Tagen erfolgten Tode mit beigetragen haben. Am Mittwoch nun wurde K. in Neukölln beerdigt. In der Zeit der Beisetzung drangen Diebe in das geschlossene Geschäft und stahlen ein großes Quantum Zigarren, Tabak und Zigaretten. Durch heimkehrende Familienangehörige überrascht, suchten die Diebe unter Zurücklassung eines Teils ihres Raubes das Weite.

Die Transkription der Zeitungstexte wurde mit Fehlern in der Rechtschreibung aus den Originalen von 1921 übernommen. Die Originale befinden sich in der Zentral- und Landesbibliothek, Breite Straße 30, 10178 Berlin.

Zwischen Begeisterung und Abscheu

Nackttänzerinnen werden zu Stars des Berliner Nachtlebens

Die Nächte sind lang in der deutschen Hauptstadt, seit die Menschen den Muff und die Prüderie der Kaiserzeit abgeschüttelt haben und die neue Freiheit in Berlins zahllosen Bars und Tanzdielen, Kaschemmen und Kabaretts genießen.
Einer der Stars im Nachtleben der zwanziger Jahre ist Celly de Rheidt. Mit ihrem Ehemann Alfred Seveloh gründet sie 1919 die Ballettgruppe »Celly de Rheidt Ballett«. Mit nackten Ballettvorführungen macht sie sich in ganz Berlin einen Namen und tritt in renommierten Theaterstätten wie etwa dem Nelson-Theater am Kurfürstendamm auf. Die Gruppe bestand vorwiegend aus jungen Mädchen zwischen 14 und 20 Jahren und zählte nie mehr als fünf Mitglieder. Für eine kurze Zeitspanne gehörte ihnen auch Anita Berber und ihr späterer Partner Sebastian Droste an.

Nackte Tatsachen.     Foto: historisch


Mit expressiven Bewegungen und extravaganten Erscheinungsbildern werden die Tänzerinnen dieser Ära zu Ikonen eines modernen Körper- und Selbstbewusstseins. Diese »Schönheits­tänze« lösen jedoch nicht nur Begeisterung aus, der für viele allzu freie Tanz trifft oft auf Unverständnis – Kritiker sagen »Hopserei« dazu – und Entrüstung und ruft die einschlägigen Tugendwächter auf den Plan. Denn obwohl seit dem 9. November 1918 Zensurbeschränkungen aufgehoben sind, können Künstlerinnen und Künstler für ihre Auftritte wegen Anstößigkeit oder Blasphemie vor Gericht gestellt und verurteilt werden. Im Jahr 1922 wird Celly de Rheidt der Prozess gemacht, weil wieder einmal zu viele Hüllen gefallen sind. Sie erwirkt eine »Inaugenscheinnahme« ihrer Tanzdarbietungen. Zum Ortstermin, der im Theatersaal des ehemaligen Landwehroffizierkasinos am Bahnhof Zoologischer Garten stattfindet, rücken Landgerichtspräsident und Generalstaatsanwalt an sowie zahlreiche Persönlichkeiten aus der Kunst- und literarischen Welt. Am Ende bleibt es bei einer hohen Geldstrafe.

mr