Neuköllner Alltägliches

Nachrichten aus dem »Neuköllner Tageblatt« vor 100 Jahren, bearbeitet von M. Rempe

Nr. 155 – Freitag, 6. Juli 1917
Eine wohlverdiente Ohrfeige. Es gibt leider immer noch Frauen, die den Wucher unterstützen, indem sie sich zur Zahlung beliebig hoher Preise erbieten. An die Unrechte kam aber eine solche am letzten Markttage in Friedenau. Vor einem Gemüsestande erhandelt eine Frau Kohlrabi und ist eben auf den Preis von 2,75 M. Einig geworden. Da ruft eine »Dame« hinter ihr der Verkäuferin zu: »Lassen Sie mir die Kohlrabi; ich gebe Ihnen 3 M.« Schon dreht sich die erste Käuferin um und gibt ihrer Konkurrentin links und rechts eine Ohrfeige mit den Worten: »So, nun bezahlen Sie die Ohrfeigen auch gleich mit.«

Nr. 156 – Sonnabend, 7. Juli 1917
Die Mietsteigerungen in Großberlin. Die sozialdemokratischen Abgeordneten Göhre und Genossen richten folgende Anfrage an den Reichskanzler: »In Großberlin und anderen Städten des Reichs werden seit einiger Zeit von Hausbesitzerorganisationen wie einzelnen Hausbesitzern planmäßig Mietskündigungen und Mietssteigerungen um 10 bis 33 Prozent vorgenommen. Betroffen davon werden sowohl zahlungsfähigere wie zahlungsunfähigere Mieter, Familien von Kriegsteilnehmern wie Nichtkriegsteilnehmern, Bewohner von Häusern mit und ohne Zentralheizung. Welche unverzüglichen Schritte gedenkt der Herr Reichskanzler gegen diese neue schwere Belastung und Beunruhigung der Arbeiterschaft und des kleinen Mittelstandes zu tun?«

Nr. 161 – Freitag, 13. Juli 1917
Gleiches Wahlrecht in Preußen. Seine Majestät der König hat an den Präsidenten des Staatsministeriums den folgenden Erlaß gerichtet: Auf den mir in Befolgung meines Erlasses vom 7. April dieses Jahres gehaltenen Vortrag meines Staatsministeriums bestimme ich hierdurch in Ergänzung desselben, daß der dem Landtage der Monarchie zur Beschlußfassung vorzulegende Gesetzentwurf wegen Abänderung des Wahlrechts zum Abgeordnetenhause auf der Grundlage des gleichen Wahlrechts aufzustellen ist. Die Vorlage ist jedenfalls so frühzeitig einzubringen, daß die nächsten Wahlen nach dem neuen Wahlrecht stattfinden können. Ich beauftrage Sie, das hiernach Erforderliche zu veranlassen.
Großes Hauptquartier, den 11. Juli 1917.
gez. Wilhelm. gegengez. Bethmann Hollweg.

Nr. 172 – Donnerstag, 26. Juli 1917
Wo bleibt das Gemüse? Wie in Neukölln, so ist auch in Berlin von der »ausreichenden Versorgung mit Gemüse und Obst« absolut nichts zu verspüren. Die »Voss. Ztg.« schreibt z. B.: Die Ansammlungen vor den Gemüseläden, die Massenaufgebote auf den Wochenmärkten dauern fort, aber leider ziehen die meisten, trotzdem sie standhaft drei und noch mehr Stunden ausgeharrt haben, mit leeren Händen ab. Vorläufig steht die Versicherung der Reichsstelle für Gemüse und Obst, daß für die Versorgung Großberlins mit Gemüse ausreichend gesorgt sei, nur auf dem Papier. Vielleicht forschen die zuständigen Stellen einmal gründlich nach dem Verbleib der nageblich reichlich eintreffenden Zufuhren.

Die Transkription des Zeitungstextes wurde mit Fehlern in der Rechtschreibung aus dem Original von 1917 übernommen. Das Original befindet sich in der Helene-Nathan-Bibliothek.

Mit Geld ins Privilegienparlament

Das preußische Dreiklassenwahlrecht

Seit der Gründung des deutschen Reiches 1871 wurde der Reichstag nach dem allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlrecht gewählt.
In Preußen dagegen galt für die Wahl zum Abgeordnetenhaus und den Gemeindevertretungen das 1849 von König Friedrich Wilhelm IV. verordnete Dreiklassenwahlrecht. Die Abgeordneten wurden indirekt über Wahlmänner gewählt. Die Wähler wurden nach ihrem Steueraufkommen, das heißt nach ihrem finanziellen Beitrag zum Staat, in drei Klassen eingeteilt. Wer mehr zahlte, hatte mehr Einfluss. Das galt damals als gerecht.

Geldsackwahlrecht.                                                                                                                       Foto: historische Karikatur

Die erste Klasse der am höchsten Besteuerten umfasste 1908 nur vier Prozent der Wähler, durfte aber ebenso viele Wahlmänner stellen wie die Geringverdiener in der dritten Klasse mit rund 82 Prozent der Wahlberechtigten.
Abstimmen durften nur Männer ab 24 Jahren, Fürsorgeempfänger waren ausgenommen. Frauen durften ebenfalls nicht wählen.
Jahrzehntelang stand das Dreiklassenwahlrecht im Mittelpunkt der Verfassungskämpfe. Mit ihrer Zustimmung zu den Kriegskrediten 1914 erhofften sich die Sozialdemokraten endlich eine Wahlrechtsreform. »Jetzt muss es heißen: gleiche Pflichten gleiche Rechte« forderte denn auch der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann.
Als sich die innenpolitischen Spannungen mit der miserablen Ernährungslage, dem Kriegseintritt der USA und den Auswirkungen der russischen Februarrevolution 1917 dramatisch zuspitzten, trat Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg die Flucht nach vorn an. Am 31. März 1917 berief er eine Kommission zur Ausarbeitung einer kaiserlichen Botschaft zur Reform des Wahlrechts ein. Bethmann Hollweg erklärte dem Kaiser, dass er keine Vorlage vertreten könne, nach der ein »mit dem Eisernen Kreuz I. Klasse geschmückter Arbeiter neben einem bemittelten Drückeberger desselben Dorfes mit ungleichem Stimmrecht zur Wahl gehen müsse.
Die »Osterbotschaft« Kaiser Wilhelms II. vom 7. April 1917 stellte die Beseitigung des Dreiklassenwahlrechts in Aussicht. Außer Kraft gesetzt wurde es aber erst im November 1918 nach dem Zusammenbruch des Kaiserreiches.

mr