Neuköllner Alltägliches

Nachrichten aus dem »Neuköllner Tageblatt« vor 100 Jahren, bearbeitet von M. Rempe

Nr. 31 – Mittwoch, 7. Februar
»Keine Ereignisse von Bedeutung.« Wenn von den verschiedenen Kriegsschauplätzen in den letzten Tagen gemeldet wurde »Keine Ereignisse von Bedeutung«, so hat indessen doch nirgends der Kampf auch nur eine Sekunde gestockt. Auf der gesamten 2000 Kilometer langen Front in Belgien, Frankreich, Rußland, Rumänien und Mazedonien stehen in den Gräben=Labyrinthen die Truppen zu jeder Stunde des Tages und der Nacht am Gewehr, stets bereit, jeden Versuch des belagerten Feindes, den Gürtel der Belagerer zu sprengen, zurückzuweisen. Die Beobachter der Artillerie und Minenwerfer stehen Tag und Nacht auf ihren Posten. Die Batterien, verborgen in Wäldern, in Schnee und Eis versunken, sind jede Minute feuerbereit. An Hunderten von Abschnitten kommt es zu Artilleriekämpfen, Feuerüberfällen und heftigen Kanonaden, die Zähigkeit und Pflichttreue verlangen, auch blutige Opfer fordern. In der Nacht schieben sich Patrouillen vor die Drahtverhaue, kauern die Horchposten in Sappenköpfen und Granattrichtern und vollbringen stille Heldentaten, die nieman kennt. Täglich werden mit Mühen und Gefahren unzählige kleinere und größere Erkundungen unternommen, die bis in die feindlichen Stellungen führen. Die Pioniere wühlen und bauen in den Schächten und horchen aufmerksam auf jedes Geräusch unter der Erde. In den Tausenden von Fernsprech­unterständen herrscht angespannte und fieberhafte Tätigkeit zur Entgegennahme und Weitergabe von Meldungen. Bei Tag und Nacht sind die Scharen von Drahtflickern unterwegs, um gestörte und zerschossene Leitungen wieder herzustellen. Mit dem anbrechenden Tage – wenn das Wetter es irgend zuläßt – erheben sich die Fliegergeschwader auf den langen Fronten in die Luft zu täglichen Aufklärungen und kämpfen mit dem Feind. Tag und Nacht sind die Kolonnen unterwegs, in Schnee und Eis, im Feuer feindlicher Granaten, um Munition, Nahrung und Post zu den Feuerstellungen zu bringen, Kranke und Verwundete zurückzuschaffen. In Tausenden von Verbandsplätzen, Feld= und Kriegslazaretten arbeitet ununterbrochen ein Heer von Aerzten, Pflegern und Pflegerinnen. Die Feldbäckereien und Feldschlächtereien sind dauernd in fieberhafter Tätigkeit. Millionen von Männern stehen unausgesetzt bei Tag und Nacht im Kampfe und in der Arbeit, in freudiger Hingebung und unerschütterlicher Entschlossenheit, beseelt vom festen Vertrauen auf den Endsieg.

Nr. 34 – Sonnabend, 10. Februar 1917
Verarbeitung von Kohlrüben zu Dörrgemüse. Die beim regelmäßigen Verkauf im Stadtbezirk Neukölln übrigbleibenden Kohlrüben sollen zu Dörrgemüse verarbeitet werden.

Nr. 35 – Sonntag, 11. Februar 1917
Eine verunglückte Hausschlachtung wird in einem Vorort im Südosten viel besprochen und belacht. Ein angesehener Herr in dem Vorort schaffte ein Schwein in die Wohnung und in die Badewanne, um es dort totzuschlagen und auszuschlachten. Als nun das Schwein zu schreien begann, erschrak der Herr so, daß er davon lief, aber auch vergaß, die Tür hinter sich zu schließen. So entstieg auch das angeschlagene Tier der Badewanne, fiel die Treppe hinunter und blieb draußen liegen. Dort fand es die Polizei und beschlagnahmte es. Gegen den Herrn, der sein gutes Herz unterschätzt und sein Schlächtertalent überschätzt hatte, ist Anzeige erstattet worden.

Die Transkription des Zeitungstextes wurde mit Fehlern in der Rechtschreibung aus dem Original von 1916 übernommen. Das Original befindet sich in der Helene-Nathan-Bibliothek.

Massensterben als Hingabe und Pflichttreue

Propaganda verklärt die grausame Realität des Krieges

Die Vorstellung von einem raschen Kriegs­ende hatte sich bereits im Herbst 1914 als Illusion erwiesen. Stattdessen erstarrte die Front von der Kanalküste bis zur Schweizer Grenze in einem unbarmherzigen Stellungskrieg mit bis dahin beispiellosen Materialschlachten, in denen Hunderttausende von Soldaten ihr Leben verloren. Ihr Tod wurde zum »Heldentod für das Vaterland« verklärt.
Um sich vor Beschuss und feindlichen Angriffen zu schützen, gruben sich die Soldaten tief in die Erde ein. Durch ein System von Schützengräben und befestigten Bollwerken wurden die an den vordersten Linien eingesetzten Truppen mit den Nachschubstellen und Feldlazaretten verbunden.

Im Schützengraben lauerte ständig der Tod.                                                                                           Foto: historisch

Oft lagen sich die Feinde auf weniger als 100 Meter in ihren Stellungen gegenüber. Tagelanges Dauerfeuer mit schwerer Artillerie sollte den Gegner zermürben, um den nachfolgenden Infanterie-Einheiten einen Durchbruch zu ermöglichen. Für die Angreifer war ein Sturm auf die gegnerischen Schützengräben weit verlustreicher als für die Verteidiger, reihenweise starben sie im Abwehrfeuer der Maschinengewehre. Aber das mörderische Ringen, bei dem Abertausende fielen, führte auf keiner der beiden Seiten zu irgendeinem strategischen oder taktischen Vorteil.
Für den einfachen Soldaten brachte der Nahkampf und das Ausharren an der Front unvorstellbare Entbehrungen und Grausamkeiten mit sich. Die Enge des Raumes, Schlamm und Morast, die katastrophalen hygienischen Zustände, Ratten und Läuse, permanenter Gestank, zermürbender Schlafmangel und die ständige Angst vor dem nächsten Angriff machten den Soldaten das Frontleben zur Hölle.
Für die »gefallenen Helden« wurden hinter der Front Friedhöfe angelegt. Oft genug aber waren die in Stücke zerrissenen Leichen nicht mehr identifizierbar und ebenso wenig aus dem ständigen Artilleriefeuer zu bergen, sodass sie in Minenkratern notdürftig mit Erde bedeckt wurden. Neue Einschläge brachten die Leichen wieder an die Oberfläche. Tote und kämpfende Soldaten lagen daher oft genug nebeneinander in den Schützengräben.
Von diesen Umständen erfuhren die in der Heimat Zurückgebliebenen normalerweise nichts, außer in den Frontbriefen der Soldaten. So hatte der Mythos vom Heldentod an der »Heimatfront« weit länger Bestand als draußen in der blutigen Realität der Schlacht. m