Neuköllner Alltägliches

Nachrichten aus dem »Neuköllner Tageblatt« vor 100 Jahren, bearbeitet von M. Rempe

NK_Tagblatt-Kopf

Nr. 288 – Freitag, 8. Dezember
Kriegs=Weihnachtsbäu­me. Das Kriegsernährungsamt schreibt: Bei der Knappheit an Fett, Seife und Lichtern ist in diesem Jahre eine freiwillige Einschränkung in Gebrauch von Weihnachtskerzen dringend geboten. Am schönsten wäre es, wenn jedem Weihnachtsbaum nur eine einzige Kerze aufgesteckt würde. Die Bedeutung und die Feierlichkeit des Vorganges würde dadurch in keiner Weise beeinträchtigt. Den Kindern aber, für die ja die Weihnachtsbäume hauptsächlich bestimmt sind, wird es eine wertvolle Erinnerung für ihr ganzes Leben bleiben, daß im Kriegsjahr 1916 nur eine einzige Kerze an ihrem Baum brennen durfte.

Nr. 290 – Sonntag, 10. Dezember
Große Kohlennot herrscht in Berlin und den Vororten, namentlich in den Arbeitervierteln. Viele Familien haben augenblicklich tatsächlich keinerlei Heizmaterial. Seit mehr als 40 Jahren ist nach Angabe von Sachverständigen ein derartig anhaltender Kohlenmangel in Berlin nicht beobachtet worden, denn nicht erst seit einigen Tagen erst, sondern seit vollen acht Wochen müssen beispielsweise im Norden von Berlin, in Neukölln und anderen im wesentlichen von Arbeitern bewohnten Vororten die Leute nach Kohlen »anstehen«, wie einst nach Butter. Auf den Kohlenplätzen finden sich Tag für Tag hunderte von Frauen mit Korbwagen ein, um die Großhändler um Abgabe, wenn auch nur kleiner Mengen, zu bitten und selbst gewisse, für die Lebensmittelversorgung unentbehrliche Betriebe, wie Bäckereien, erklären, aus Mangel an Kohle nicht mehr weiterarbeiten zu können. Seltsamerweise scheint gegen diese Zustände, die schleuniger und energischer Abhilfe bedürften, bisher so gut wie nichts geschehen zu sein. Das Seltsamste ist, daß tatsächlich ein Mangel an Kohle in den eigentlichen Kohlenrevieren absolut nicht besteht; die Steinkohleförderung ist trotz der auch im Bergbau bestehende Produktionsschwierigkeit gegenüber der vorjährigen noch hinausgegangen. Die Kohlenlager der Gruben sind nach den Berichten des Syndikats durchaus reichliche, und an Preßkohlen liegen in den Fabriken, zum Beispiel in der Lausitz, die für die Versorgung Großberlins in erster Linie in Frage kommen, ganz ungeheure Vorräte. Die Krisis ist dadurch hervorgerufen, daß die Eisenbahnverwaltung nicht rechtzeitig und nicht ausreichend das erforderliche Wagenmaterial zur Verfügung gestellt hat, und das andererseits auch den Berliner Großhändlern die Abfuhr von den Bahnhöfen infolge Arbeitermangels nicht möglich war und ist. Schon im gesundheitlichen Interesse der Bevölkerung tut schnelle Abhilfe des Kohlenmangels dringend not.

Nr. 298 – Mittwoch, 20. Dezember
Die Frau als Stationsvorsteher. Die neueste Erscheinung auf dem Gebiete der Ersetzung der Männertätigkeit durch Frauenarbeit ist die Frau als Stationsvorsteher auf der Eisenbahn. Die Frau mit der roten Mütze. Ihre Verwendung geschieht auf einfachen Abfertigungsstellen im Vorort= und Lokalverkehr, wo schon längst keine Vorsteher mehr verwendet werden, sondern untere Beamte. Aber da diese Beamten, die bei der Zugabfertigung die rote Mütze tragen, nun einmal als »Stationsvorsteher« gelten, so wird man auch die ihren Dienst tuenden Frauen als Frau oder Fräulein Stationsvorsteher anreden, wenn man sich Rats erholen will. Auf wichtigeren Bahnsteigen im Fernverkehr wird nach wie vor die Abfertigung der Züge durch männliche Beamte erfolgen. Auch als Zugführer werden Frauen nur im lokalen Zugdienst verwendet, wo die Tätigkeit mehr die von Zugbegleitern ist.

Die Transkription des Zeitungstextes wurde mit Fehlern in der Rechtschreibung aus dem Original von 1916 übernommen. Das Original befindet sich in der Helene-Nathan-Bibliothek.

Nicht nur für Männer

Frauen erobern die Eisenbahn als Arbeitsplatz

Frauen in Männerberufen waren seit Kriegsbeginn ein alltäglicher Anblick. Auch bei der Reichsbahn ersetzten immer mehr Frauen die zum Kriegsdienst eingezogenen Männer.
Anfang 1914 beschäftigte die preußisch-hessische Staatseisenbahnverwaltung, damals größter Arbeitgeber der Welt, rund 11.000 Arbeiterinnen. Bis zum März 1918 hatte sich diese Zahl auf 107.000 erhöht.

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Bahnarbeiterinnen.                                                                                                                                                    Foto: historisch

Eingesetzt wurden sie nicht nur im Innendienst oder als Zugabfertigerinnen und Schaffnerinnen, sondern auch als Arbeiterinnen in den Werkstätten und im Streckenbau.
Den Schaffnerinnen und Streckenarbeiterinnen war eine einheitliche Dienstkleidung vorgeschrieben wie Joppe, Mütze Hosen und Gamaschen. Ein Anblick, an den sich das Publikum erst gewöhnen musste.
Die Arbeitszeit betrug durchschnittlich elf bis zwölf Stunden täglich. Ab 1915 mussten Frauen auch Nachtdienste leisten. Sonntagsarbeit und Überstunden kamen dazu. Als Gehalt erhielten sie dafür lediglich rund dreiviertel der Anfangslöhne des männlichen Personals im jeweiligen Aufgabenbereich.Bei der Einstellung wurde ihnen außerdem ausdrücklich zu verstehen gegeben, dass sie nur solange beschäftigt werden sollten, wie der Krieg andauerte.
Die Ausbildungszeit in den einzelnen Arbeitsbereichen wurde fast überall verkürzt, um schneller Ersatzpersonal zur Verfügung zu haben. Durch die auch oft oberflächliche Einweisung in die Gefahren in Gleisanlagen, kam es zu teilweise schweren Unfällen.
Das schwerste Unglück ereignete sich am 11. November 1916 zwischen Rahn­sdorf und Wilhelmshagen, als der »Balkan-Express« in eine Gruppe von Gleisarbeiterinnen raste. Die Frauen aus Schlesien im Alter von 17 bis 27 Jahren arbeiteten für die »Schlesische Hoch- und Tiefbaugesellschaft Breslau« als Streckenarbeiterinnen und waren erst seit zwei Wochen dienstverpflichtet zur Arbeit in Berlin.
Weil sie die Vorbeifahrt eines Militärzuges abwarten wollten, waren sie auf das Nachbargleis ausgewichen. Ein tödlicher Fehler, denn dort näherte sich der Schnellzug. Das zu spät abgegebene Warnsignal für diesen Zug war vermutlich im lauten Rattern des Militärzuges untergegangen.
19 Arbeiterinnen starben, nur sieben konnten sich in Sicherheit bringen. mr