Neuköllner Alltägliches

Nachrichten aus dem »Neuköllner Tageblatt« vor 100 Jahren, bearbeitet von M. Rempe

NK_Tagblatt-Kopf

Nr. 273 – Sonntag, 19. November 1916
Kohlrüben als Kartoffelersatz. Das Kriegsernährungsamt hat der Reichskartoffelstelle den Auftrag gegeben, in möglichst großem Umfange Kohlrüben aufzukaufen, um dort, wo infolge länger anhaltenden Frostes nicht genügend Speisekartoffeln zur Verfügung stehen, Kohlrüben als Ersatz überweisen zu können. Den Bedarfsverbänden, die Kohlrüben wünschen, wird zunächst die Menge überwiesen werden können, die ausreicht, um für 6 Wochen an Stelle von Kartoffeln Kohlrüben zu geben, unter Zugrundelegung einer doppelten Rübenration gegenüber den für Speisekartoffeln geltenden Tageskopfmengen. Die Kohlrübe soll hierbei nicht etwa die Kartoffeln ganz ersetzen, sondern eine Zugabe bilden, wenn es infolge der Witterungsverhältnisse nicht möglich ist, die Kartoffelration in voller Höhe zu verabfolgen. Daß die Kohlrübe ein sehr gutes und bekömmliches Nahrungsmittel ist, das in vielen Landesteilen auch sich bereits im Frieden sehr eingebürgert hat, ist bekannt. Die Kohlrübe hat überdies den Vorteil, daß sie weniger frostempfindlich ist als die Speisekartoffel, so daß sie auch bei mäßigem Frost ohne Schaden transportiert werden kann.

Nr. 274 – Dienstag,  21. November 1916
Rücksicht auf Familienväter im Felde. Das Kriegsministerium hat Anordnung getroffen, daß bei der Verwendung der Mannschaften auf die Familienverhältnisse der oft schon durch schwere Blutopfer hart geprüften Familien Rücksicht zu nehmen ist, und daß Familienväter mit vielen Kindern möglichst nicht dauernd in vorderster Linie Verwendung finden.

Nr. 275 – Mittwoch, 22. November 1916
Unerhört hoher Preis für Preißelbeeren. Die sich besonders als Kompottfrucht großer Beliebheit erfreuenden Preißelbeeren sind in diesem Jahre ganz besonders hoch im Preise. Es werden von den Kleinhändlern Preise gefordert, die zu früheren Jahren in gar keinem Verhältnis stehen, so daß es nur Bemittelten möglich ist, sich Preißelbeeren einzukochen. Während in früheren Jahren das Kilogramm 40 Pfg. kostete, werden jetzt im Kleinhandel für die gleiche Menge 3 M. gefordert.

Nr. 281 – Donnerstag, 30. November 1916
Verdorbener Kohl. Das Verbandsorgan des Reichsverbandes deutscher Obst= und Gemüsehändler berichtet: Wir können heute auf Grund einwandfreier Feststellungen mitteilen, daß in der Zeit vom 3. bis 10. November auf Berliner Bahnhöfen etwa zwei­tausend Zentner Kohl verdorben sind, weil niemand wußte, wohin die Ware gebracht werden soll! Das sind Zustände, die unmöglich wären, wenn die Maschinerie im Kriegsernährungsamt richtig funktionierte. Wir hoffen aber, und Tausend mit uns, daß diesem Zustande alsbald ein Ende gemacht und das ganze bisherige System einer dringenden Aenderung unterworfen wird. Herr von Batocki würde vor mancher bitteren Erfahrung bewahrt geblieben sein, wenn er den Kleinhandel zur Beratung des Kriegsernährungsamtes herangezogen hätte, anstatt ihn vor der Türe stehen zu lassen. Noch ist es mit einer Wandlung in dieser Hinsicht nicht zu spät, zumal auch die konservative Fraktion im preußischen Abgeordnetenhause einen derartigen Antrag eingebracht hat. Herr von Batocki wird nicht schlecht beraten sein, wenn er den Kleinhandel mehr als bisher zum Worte kommen läßt, und dann wird auch unser Meister Hindenburg nicht mehr als Mahner aufzutreten brauchen.

Die Transkription des Zeitungstextes wurde mit Fehlern in der Rechtschreibung aus dem Original von 1916 übernommen. Das Original befindet sich in der Helene-Nathan-Bibliothek.

Kohlrüben statt Kartoffeln

Die Ernährungskrise nimmt immer dramatischere Formen an

Mit dem Wintereinbruch 1916 begannen besonders für die städtischen Arbeiterhaushalte die schwersten Monate des Krieges. Die Not in diesem »Hungerwinter« war dramatisch.
Die Getreideernte war schlecht, weil Arbeitskräfte in der Landwirtschaft, Maschinen und Zugtiere fehlten. Ein verregneter Herbst hatte zudem eine Kartoffelfäule verursacht, die die Ernte etwa auf die Hälfte des Vorjahres reduzierte.

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Hungernde in der öffentlichen Suppenküche.                                                                                        Foto: historisch

So wurden statt Kartoffeln nun Kohlrüben zum Hauptnahrungsmittel. Die sind äußerst robust, gedeihen praktisch bei jedem Wetter und benötigen kaum Kunstdünger, der längst auch nicht mehr zur Verfügung stand. Sie haben allerdings nur einen geringen Nährwert.
Brot, Marmelade, Kaffee bestanden aus Kohlrüben, die Morgen-, Mittags- und Abendsuppe aus Wasser und Kohlrüben ohne Mehl und Fett. Es gab kaum etwas, was sich nicht aus Kohlrüben zusammenmixen ließ, selbst Bier und Pudding wurden auf Kohlrübenbasis hergestellt.
Unterernährung war nun an der Tagesordnung, die Anfälligkeit gegen Infektionskrankheiten nahm zu, Krankheiten wie Tuberkulose und Grippe forderten zahlreiche Opfer. Die Kindersterblichkeit stieg um 50 Prozent, viele Mütter starben an den Folgen einer Geburt. Etwa 750.000 Menschen gingen in Deutschland während des Ersten Weltkrieges am Hunger zu Grunde.
Das »Hamstern« wurde zur Überlebensfrage. Trotz aller Verbote und Kontrollen durchkämmten Kolonnen von Großstädtern die ländlichen Regionen auf der Suche nach Essbarem, das sie gegen Wertgegenstände eintauschen konnten. Für andere waren die öffentliche Suppenküchen die letzte Rettung vor dem Hungertod.
Während die Armen hungerten, unterliefen finanziell Bessergestellte das staatlich kontrollierte Verteilungssystem und deckten ihren Nahrungsmittelbedarf über den Schwarzmarkt. Das sorgte für Erbitterung. Das offenkundige Versagen der Behörden bei der Bekämpfung des »Schleichhandels« wurde als fundamentaler Verstoß gegen das Gebot sozialer Gerechtigkeit empfunden und schürte den Hass auf die Wohlhabenden.
mr