Petras Tagebuch

Augen zu im Straßenverkehr

Jeden Morgen bereite ich mich auf den Neuköllner Straßenverkehr vor, spiele alle möglichen Situationen durch, stelle mich auf Beschimpfungen ein und rufe meinen Schutzengel an, mir in lebensbedrohlichen Momenten beizustehen.
Entspannend ist es immer, mit dem Fahrrad durch die Thomasstraße zu fahren. Offiziell ist das eine Kilometer-30-Zone, was von den Autofahrern nicht so ernst genommen wird. An diesem Morgen hielten sich die Fahrer an die Geschwindigkeitsbegrenzung, denn ein Stau verhinderte Mutproben von testosterongesteuerten Fahrern.
Ich drängelte mich an den Autos vorbei in der Erwartung, beschimpft zu werden. Zu meinem Erstaunen erntete ich nur ein Kopfschütteln. Als ich die Kreuzung zur Hermannstraße erreichte, befürchtete ich eine lautstarke Auseinandersetzung mit einem Beifahrer, als die Windschutzscheibe heruntergelassen wurde. »Entschuldigen Sie bitte«, sagte der Beifahrer, »aber meine Frau hat ihre Brille zu Hause vergessen und wird Sie beim Abbiegen übersehen.« Eine Frau ohne Brille strahlte mich an. Wahrscheinlich erkannte sie mich nicht. »Wollen Sie sich etwa meine Brille ausleihen?« fragte ich. Der Mann daraufhin: »Ich würde mich sicherer fühlen, wenn Sie das täten. Ich wollte Sie gerade danach fragen.«
»Dann kann ich aber nichts mehr sehen und das kann gefährlich werden. Weniger für Sie als für mich«. erwiderte ich. »Wir geben Ihnen Begleitschutz, versprochen.« Ich ließ mich auf das Experiment ein, in der Hoffnung, dass die Frau mit meiner Brille weniger erkennt als ohne. So war es dann auch, und ich hatte meine Brille rasch zurück.
Als die Kreuzung frei war, wollte ich dem Auto den Vorrang geben. »Nein, bitte fahren Sie zuerst, meine Frau kriegt doch die Kurve nicht und klemmt Sie dann ein.« So ging es kurz hin und her. Ich ließ mich überzeugen, aber da floss der Verkehr in der Hermannstraße in gewohnter Weise, und wir konnten uns zum Leidwesen aller wartenden Autofahrer weiter unterhalten.
Ich erfuhr, dass das Pärchen auf dem Weg zu »IKEA« war. Sie wollten sich nach Kücheneinrichtungen umsehen und waren schon in voller Vorfreude. Sie erzählten, dass sie Neuköllner sind. Sie wollten einfach nur ein wenig plaudern. Als die Kreuzung dann wieder frei war, nahm ich den Vortritt an. Ich bog nach rechts ab, das Pärchen nach links. Es war eine nette und seltene Begegnung zwischen Fahrrad-und Autofahrer.